Stadtspaziergang durch leere Strassen: ein Gastbeitrag von Andrea Kaiser.
Nur die untergangsverkündende Glockenhexe begleitet mich auf meinen Wegen, über mir, um mich wabernd, jeden Alltagslaut des Verkehrs, die immergleichen Bekundungen geschwätziger Passanten, die Bettelpfiffe des Kleinflügelviehs erdrückend. Sie dröhnt mir in die Trommelfelle, während ich die Stadt in Stücke spaziere. (Dass ich diesem Abspielgerät jedes Mal eine erhöhte Lautstärke bestätigen muss, empfinde ich als Diskriminierung von Schwerhörigen.) Im Innern der Dinge Gesetze vortäuschend durchdringen nur die Turmglocken der Friedenskirche die Schallmauer und mahnen mich ans Jetzt, als würden die urtümlichen Schreckgestalten der geängstigten Menschheit ihren Kampf um meine vermutete Seele ausfechten. Beziehungsweise ausbimmeln.
Allerhand geistert durch meinen Kopf, Erinnerungsfetzen, halbe Parolen, Schnappschüsse längst verblichener Bilder und Stückwerk theoretischer Betrachtungen; ich täusche mir immer noch vor, einen Sinn in all dem zu suchen. Dazwischen schwappt in unbeirrter Regelmässigkeit der alte Kehrreim an die gedankliche Oberfläche, die Sehnsucht, die mich in unbestimmte Richtungen treibt. Die allseits gepriesene Bedürfnislosigkeit ist auch nur ein Zustand der Leblosigkeit.
Der Eigerplatz ist so ausgestorben wie an einem Samstagnachmittag. Dicht an dicht drängen sich hier Kaffeestuben, vier in einer Reihe, die auch in normalen Zeiten zur selben Zeit geöffnet – und vor allem gleichzeitig geschlossen haben. Nicht mal das regelt der Markt.
Üblicherweise ist die lange Gerade der Monbijoubrücke leergefegt, nur heute kreuze ich an einem Punkt gleichzeitig einen Entgegenkommenden mit Mundschutz und eine Radfahrerin ohne, dafür mit Velohelm. Wie niedrig ist die Wahrscheinlichkeit? Immer noch höher als die des Glücks, raunt eine boshafte Stimme in mir. Was ist Glück – was man nicht hat und nicht ist? Eine Negation also. Wer aus Trägheit und Angst in einer abgestorbenen Liebesbeziehung verharrt, hat eine andere Vorstellung davon als jemand, der wie ein Ahasver endlos durch die Welt schlingert.
Das Kirchenfeld ist tot, war es immer schon. Kaum ein Treffpunkt, ein Ausschank oder eine Gaststätte in diesem Schachfigurenkabinett aus englischer Zeit mit seinen Schlössern und Burgen im schüchternem Kleinformat. Ambassaden und Konsulate reihen sich an Strassen, die nach für unsere Verhältnisse geschichtsträchtigen Figuren benannt sind. Bei manchem Weg wird im Karteikasten der Memoiren eine Akte rausgefischt und eine Unbehaglichkeit fingert nach meinem Gemüt.
«Stein auf Stein auf gefallenen Stein» – liegt’s an Hoffmann oder Arno, dass mir dazu immer ein Herz einfällt? Ein Steinherz, das genug hat und den ganzen Rest der Maschine in die endgültige Ruhe setzt. Am Ende der Kirchenfeldbrücke möchte ich einen munchschen Schrei ausstossen, einfach des Bildes wegen (vielleicht ist mir auch sonst danach zumute).
Welchen Weg ich auch einschlage, ich ende immer am Kornhausplatz, dem kulturellen Knotenpunkt dieser Stadt, dem steinernen Organ, das für den Sinn einer dichtgedrängten Wohngemeinschaft steht. Pyri, Eidgenossen, Les Amis: mitunter erblicke ich einen ehemaligen Stammgast der vergangenen geselligen Dreifaltigkeit, der Halt und Richtung vortäuschend durchs Leben mäandert. Wir grüssen einander nicht, gucken sogar beschämt weg. Wie Gespenster ziehen wir durchs Bermudadreieck.
Meine Schritte werden schwer. Ich wollt›, es gäbe mehr, als ich sehe.