Im Zug erklärt mir ein Typ, dass er jetzt die Hörgeräte rausnehmen muss, es sei zu viel, es werde ihm zu anstrengend. Ich kenne das, meine Grossmutter ist im selben Spiel, man hört dann alles gleich laut und besonders einige Frequenzen. Er ist froh, dass ich verstehe, und erzählt mir wohl darum von seinem Projekt: «Lesen mit Lernenden» heisst das, da dürfen sich die Lernenden ein Buch auswählen aus einer langen Liste, das sie lesen sollen oder dürfen. Da gebe es ein Mädchen, sechzehn Jahre alt, und das sei ihr erstes Buch, das sie zu Ende gelesen hat, es habe ihr gefallen – und das sei schön. Das finde ich auch. Alles wegen Robert Walser, sagt er, und dieser Skulptur von Thomas Hirschhorn auf dem Bieler Bahnhofsplatz. Und ich freue mich, weil ich gerade vorhin in und auf und um diese Skulptur war, die nach meinem Empfinden eigentlich keine ist. Eher ein Gelände. Aber Hirschhorn nennt sie halt so und alle andern auch. So oder so hat sie mich irgendwo berührt, aber an eine Reichweite bis in den Regioexpress nach Lyss und Bern, voll und schwitzig, hatte ich nicht geglaubt.
Selber habe ich nicht viel Ahnung von Robert Walser, ehrlich gesagt. Aber vielleicht spielt das nicht unbedingt eine Rolle. Vielleicht ist genau das der Witz: dass man dann auf der Skulptur herumspaziert und hineinschauen kann in diese Welt aus viel Holz, vollgesprayt mit den Worten Walsers, aber vor allem voll mit vielen Räumen: Esperanto-Schulzimmer, Bastelstation, Xenas BDSM-Ecke, Zeitungsredaktion, Bühne und Bar und ein kurioser Essensstand und so weiter. Irgendwo sitzt immer irgendjemand und liest aus einem Werk von Robert Walser, 86 Tage durchgehend von 10-22, jetzt gerade eine ältere Frau aus «Der Teich», in der berndeutschen Originalfassung.
Die meisten da, um sich ein wenig Walser zu geben und die meisten auch, um ein Bier zu trinken und gemeinsam da zu sein. Es fühlt sich ein wenig an wie auf einem Festival, aber im guten Sinn – heiss in dieser unverhofften Junisonne, mit Menschen, die anders sind als man selbst ist, aber trotzdem wegen desselben hier. Und eine Klobrille ist vollgepinkelt und die Leute sitzen zusammen auf den vielen Sofas und trinken Dosenbier, von dem man nicht weiss, ist es von der Bar oder mitgebracht – und sollte man vielleicht einfach kurz in den Bahnhof nochmal zum Coop und dort ein Bier holen, weil billiger; oder sollte man Kultur unterstützen. Aber an wen geht eigentlich dieses Geld und wer profitiert von der Bar und sind diese in Sagex gefrästen Omega- und Swatch-Schriftzüge eine Parodie, weil Biel und Uhren und so, oder haben die wirklich ihr Geld drin, weil Biel und Walser und Hirschhorn, wäre ja auch denkbar und eigentlich halb so schlimm. Später erfahre ich, aus dem Bund, dass die ihr Geld genau nicht geben wollten, also wirklich Parodie. Das freut dann natürlich schon.
«Dadurch, dass viele zufriedene satte & ein wenig ratlose Besucher auf der Skulptur wandeln um sie zu beleben, fällt auf wie schwer es ist Kunst & Leben in ein funktionierendes Etwas zu verflechten.» Das steht in einem Leserbrief an die Robert-Walser-Zeitung, die hier täglich erscheint – ich frage mich, ob das stimmt und glaube es eher nicht. Weil sich das hier schon anfühlt wie ein funktionierendes Etwas. Und dessen Schönheit es ist, dass es sich entwickelt über den Sommer hinweg bis in den September, bis wieder abgebaut wird. Die zufriedenen satten ratlosen Besucherinnen halten es vielleicht eh mit Walser: «Ich bin ungemein energisch im Gehenlassen und Nichtstun.»