Glück der Abhängigkeit

Wir sind ausgehungert an diesem Mittwochabend im Progr. Vom Bretagnewetter, immer windschief alles, Sitzungen an Bistrotischen in kalten Gassen, Winterjacken und Schals. Und der elende Bandwurm von Pandemie würgt sich langsam vom Gehirn zum Gedärm vor und spitzelt schon hinten raus, aber zieht uns mit dem Schwanz noch immer die Pupillen zu, lebt von unserer Ausdauer. Ausschleichen ist Folter. Das Elend vom Verglühen – abgewöhnen heisst nur möglichst nichts zu spüren. Ich wünschte mir einen Knall. David Bowie vielleicht, bekleidet von einer Boa nur und seiner SS-Mütze, auf dem Dach der leerstehenden Oberzolldirektion im Monbijou, Stossgebete verlautend durchs Megafon, mit der vereinten Putzbelegschaft der Bude als Chor im Hintergrund. Und dass er auf die letzten Beamt*innen herunterseiche, die da ausstempeln müssen, den Tempel verlassen Richtung profillosem Grossraumbüro.

Für den Anfang ist erstmal das Beeflat bestellt. Béatrice Graf und Domi Chansorn mit improvisierter Musik, das verspricht Aufbruch. Eine Symphonie der Assoziationen, Anstösse und Überwältigungen, zwei Spielvernarrte mit gezielten Hammerschlägen auf die Krusten unserer verkalkten Synapsenorgeln. Die Béatrice, Furor am Schlagzeug (oder was sie darunter zu bauen versteht), Urgewächs der freien Szene, in der Band Ester Poly – mit Martina Berther – spielkräftig, ausdrucksstark und Faserpelz von Mensch. Und der Domi, Multiinstrumentalist, einst mit Evelinn Trouble und Fai Baba auf Achse, kauzig, verwegen, verehrt. Für seinen Genius und Charakter – Vorhang auf:

Graf schaukelt los, versetzt ihren Keksdosen und Salatschüsseln erste Hiebe mit samtköpfigen Schlägertypen, hantiert und streichelt mit Muschelschalen über gebastelte Saiteninstrumente, schlägt den Rhythmus an. Chansorn lässt sich das gefallen, doktert mit den Fingerspitzen an den Reglern seines Gitarrenverstärkers oder flicht am Keyboard Melodiefetzen in das sich anbandelnde Spinnwerk ein. Wir folgen diesen Fäden, die sich um die Gestik der Protagonist*innen und immer enger auch um das Material auf der Bühne zu wickeln scheinen, an dieser Skulptur von Schlagwerk links und dem glitzerigen Cockpit aus Lautsprechern, Klaviaturen, Klampfen und Harfen rechts – als wäre es die materialisierte Steuerzentrale des von Sun Ra imaginierten Raumschiffs, Destination Love in Outer Space.

Aber mehr geht dann nicht an diesem Abend – als der Glanz von Oberflächen, der Teppich bleibt eingerollt und das Spaceshuttle am Boden. Zwei Athlet*innen im Stadion, die nicht aus ihren Klötzen kommen. Gefangen für eine Konzertlänge, in den zur Schleife geklebten, nervösen Sekunden vor dem Startschuss. Diesem Fingern an den Schnürsenkeln, Zurechtzupfen der eigenen Garnitur, mit dem Blick nach unten, im Tunnel – alleine. Die Aufgabe zur gemeinsamen Improvisation scheint heute eine zu grosse Hypothek für beide. Und so stehen wir danach wieder im Regen, vor dieser Turnhalle und räsonieren.

Was ist schiefgelaufen? Das roch doch nach Cage, Stockhausen, der Fokus der freien Form – ein Versprechen zur Auflösung repräsentativer Muster mittels zeitgenössischen Musizierens, vorgetragen von beglaubigten Virtuos*innen aus der Off-Szene, progressiv bis an den Bach runter und an welchem Baum zur Hölle kann denn da der Fallstrick hängen?

Die 70er sind vorbei und der primitive Gestus soundverliebter Rockbands (aka Männerbünde) mit ihren hüftsteifen, immer gleichen Krachwänden längst unterwandert. Und auch die Kraft der Improvisation entgegen diesem einstudiert generischen Kult hat sich abgetragen. Oftmals ist Impro doch heutzutage viel eher Strategie zur Veredelung von Individualpositionen. Eigennamen wiegen Gold, Künstler, Frittenbude deiner selbst, im Hafen der Kulturindustrie und der Fisch stinkt vom Kopf. Du bist die Marke und längst selbst das repräsentative Muster, dass es aus subversiver Warte zu demontieren gälte. Aber auch die Idee von Subversion ist gewesen, die Spex ist tot, get over it. Die Pandemie hat ihren Anteil an dieser Katalyse des Individuellen. Oder kann sich jemand vorstellen, dass eineinhalb Jahre praktizierte Abschottung nicht mindestens unterbewusst die Idee des alleingestellten Ichs gegen die Anderen verstärkte?

Eine gelingende Improvisation bedarf Gegenteiligem. Sie bedingt das Eingeständnis gegenseitiger Abhängigkeit – damit man sich nicht viel eher verunsichert, dafür braucht es eine Einsicht in diese ständig bestehende soziale Interdependenz. Dann wäre das bemächtigend. Fuck me: Es gibt kein solches Ding wie alleine. Gemeinsam aus dem Nichts ein Feuerwerk an Spielwitz und Emotionen zu zünden – improvisieren – das braucht Verständnis, Einfühlungsvermögen und Geduld. Man muss sich was zu erzählen haben, im Vertrauen, und dann kann das Billardspiel losgehen. Dann können die Kugeln aneinander knallen und auseinanderschiessen, man weiss ja um die Banden. Abhängigkeit meint nicht immer einfach Gewalt, wie es aus der Mottenkiste der Psychoanalyse pfeift, Pfeifen werden mit Pfeifenstopfern getauscht, Gewalt war viel zu lange männlich und erwachsen definiert. Gewalt bedeutet doch allein Kraft, ist umzudeuten und Machtfantasie heisst auch Vorstellungskraft – der nackte Bowie auf dem Dach, er müsste ja nicht auf die Köpfe armer Tröpfe pissen. Und könnte, anstatt zu schreien, einfach um unserer aller Gnade singen.

Theorie zum Weiterlesen: Judith Butler, «Die Macht der Gewaltlosigkeit».