Goth bei vierzig Grad im Schatten

Wer sich wagt, über die Identität einer beliebigen Sache nachzudenken, begibt sich in schwieriges Gefilde. Je näher man schaut, desto verschwommener und faseriger und überhaupt undefinierbarer wird sie, ganz ähnlich, wie wenn man auf LSD versucht zu entscheiden, wie gross die eigenen Pupillen gerade sind, wo sie anfangen, wo sie aufhören (ob es sie überhaupt gibt). «The closer we look, the more slippery the very (mental and physical) land we stand on becomes.» Das schreibt Francesco Fusaro im Präludium zu «Sonic Traces: From Italy» über seinen Gegenstand – die italienische (oder «italienische») Musik, und das ist erst einmal kaum eine bahnbrechende oder irgendwie neue Einsicht. Aber es ist eben, wohl oder übel, trotzdem die Grundlage, auf der er sich (und wir uns) bewegen: Was macht sie aus, die italienische Musik? Und wer sind die, die sie machen?

Der rutschige Boden bietet im Darauffolgenden Platz für allerhand Gestalten. «Sonic Traces: From Italy», herausgegeben von Norient Books, lässt dreizehn Menschen das Wort, die mit Musik aus, über oder um Italien zu tun haben – die meisten Teil der italienischen Diaspora in London, also ohnehin mit früher oder später neu kalibriertem Blick. Versammelt sind Essays, Erinnerungen, Einblicke, akademisch Verschrobenes und narrativ Leichtes. Da ist Disco und K-Pop und Goth, da sind die Cantautori, da ist Trap und Barock. Auf jeweils wenigen Seiten eröffnen die Autor*innen Einblicke in Welten und Szenen, versehen sind die Artikel jeweils mit Literaturverweisen sowie einem QR-Code, über den weiterführende Informationen – meistens auch Audiodateien – zu holen sind.

Und eben, die Zugehörigkeit. Der Ethnomusikologe Bruno Rana erzählt von den italienischen Secondos, die im New York der frühen Siebziger begannen, Disco aufzulegen und sich so als eine der ersten im DJing versuchten. «Biological laws tell us that certain divergent people will not mix or blend», das sagte Calvin Coolidge 1924, damals US-amerikanischer Präsident, und boy, did they prove him wrong.

Rom, vierzig Jahre später. «Plonto?» Mike Lennon geht ans Telefon, «Ciao Phla, come stai? Tutto bene? E sto pe› venile in studio, plepalato miclofono?», Bruder, wie gehts dir, ich komm ins Studio – ist das Mikrofon bereit?, sagt Lennon im Track «Faccio Soldi», alles in jenem «chinesischem» Akzent, mit dem sich die Leute, seit der Italo-Vietnamese klein ist, über ihn lustig machen. Justin Olivier Salhani schreibt über Lennon und andere Rapper*innen mit Migrationsgeschichte in einem Land, das bis heute keinen Umgang mit seiner faschistischen Geschichte (und Gegenwart) gefunden hat, wo Rassismus und damit verbundene tödliche Gewalt Alltag ist – und wo Ghali aus Milano mit tunesischen Wurzeln, dunklem Teint und Dreads einer der erfolgreichsten Musiker, nicht nur im Trap, sondern überhaupt ist.

Und dann ist da Seb Patane, gross geworden im Sizilien der Achtziger und als Teenager unendlich fasziniert von Goth: Er erzählt nicht nur von den Schwierigkeiten, an Platten zu kommen, Gleichgesinnte zu finden und im nahegelegenen Catania ohne Auto an Konzerte zu gehen (der letzte Zug zurück ins Dorf fuhr um halb elf). Sondern auch von dem ganz grundsätzlichen Problem, bei vierzig Grad im Schatten von oben bis unten in langärmliger schwarzer Kluft zu stecken und dabei zu versuchen, nicht mit der Sonne in Berührung zu kommen, um sich ja nicht zu bräunen.

Die Queers nicht zu vergessen und die Latinxs, die Techies und die Tüftlerinnen und auch jene kaum Erinnerten, die einmal versuchten, die traditionelle Folkmusik Pizzica Pizzica aus dem Südosten zu Tecnopizzica zu machen. Und so weiter. So löst dieses (übrigens geil trashig aufgemachte) Buch das Schönste ein, was ein solches Kompendium tun kann: In der unvermeidbaren Einschränkung einer Aufzählung aufscheinen lassen, dass da noch viel mehr ist. Das Feld offen lassen. Der rutschige Boden, das kann schliesslich auch die Tanzfläche im Club sein.

«Sonic Traces: From Italy» ist im Mai bei Norient Books erschienen.