Und es ging friedlich die Welt unter bei einer lieben Musik.
Unscheinbar ist die alte Predigerkirche an der Zeughausgasse 8, die eine wüste Gasse ist, ein langgezogener Parkplatz zwischen zweitklassigen Hotels, einigen Restaurants und Kleiderläden. Vollkommenes Mittelmass; zu breit für eine Gasse, zu schmal für eine repräsentative Strasse, also verdientermassen ins Zentrum dieser Stadt gebaut. Gartenmöbel von bedenklicher Scheusslichkeit, die zum Verweilen einladen möchten, wahrscheinlich aber vor allem die Lastwagenfahrer und Logistikerinnen in ihrem Alltag behindern. Dann Leos Pub, Faschobar mit den günstigsten Spirituosen von Bern o. der letzte Abgrund vor dem Gotteshaus. (Wo würde Jesus sich besaufen?)
Die Französische Kirche: Aus ihrem Dach ragt kein Turm. Im Innern weitläufiger als von aussen, bleibt sie immer frühgotisch und proto-protestantisch demütig in der Ausstattung. Auch die fast fünfhundert Jahre später angeklebte Westfront duckt sich vor dem touristischen Blick.
Ein guter Ort, sich auf den Boden zu legen und embryonal zusammengefaltet über Dinge nachzudenken. Zum Beispiel: was für ein tolles Instrument die Orgel ist, zwischen körperloser Demut und tonnenschwerem Grössenwahn. Darüber nachzudenken, wie die Organistin aus der Welt verschwindet; gesichtslos, mit dem Rücken zum Diesseits, ganz im Dienst des göttlichen Welttheaters, das diese Teufelsmöbel metaphorisch abbilden. Kein Wunder, hat man das Ding nach der Reformation erstmal verboten. Ein absolutes System, teuer im Unterhalt – und wenn etwa eine kleine Spinne in einer Pfeife dieser sechsundsechzig Register verendet, kommt der Apparat durcheinander.
Kali Malone erzählt das in einem Interview und freut sich darüber. Sie ist Orgelstimmerin und Komponistin und sitzt da oben im Schatten neben einem gewissen Stephen O’Malley, aber die Lichtkegel scheinen den beiden am Arsch vorbei nach den Orgelpfeifen und schliesslich zur Decke.
Nach oben schauen, während alles verschwimmt. Kali Malone spielt das Konzert in zwei Bögen, der erste Teil kommt über Lautsprecher aus einer Nebenkammer. Bei den Proben habe sie eine weitere Orgel entdeckt, deren Klang und insbesondere historische Stimmung sie entzückt und man schliesslich umdisponiert habe. Die Welt der Schwebungen, scharfen Terzen und Wolfsquinten, das Eigenleben der Tonarten – eine faszinierende Mathematik und ihr Gebiet.
Darüber nachdenken, was diese weltliche Musik mit den Orgelstürmern des sechzehnten Jahrhunderts gemacht hätte. Hätte man Kali Malone vom Manual gerissen und aus der Stadt gejagt? Oder wäre man auch auf den Kirchenboden gesackt, vom Eigensinn befreit, beseelt vom Verschwinden der Interpretin, von der in Sinnlichkeit überführten Sinnhaftigkeit eines höheren Systems? Es ist zu befürchten, dass die Sache unschön herausgekommen wäre. All das quasireligiöse, antiindividualistische Potential, die ganze irgendwie blasphemische und irgendwie göttliche Erleuchtung dieser Musik wäre mit Frau Malone wohl auf dem Scheiterhaufen gelandet. Frau Malone wäre einfach eine Frau geblieben, Ambivalenzen sind ein brennbares Gas.
Heute ist sie kaum ein weltliches Wesen. Eher ein Geist im Dienst dieser Musik, bei der es kaum um den interpretativen Ausdruck geht als um einen höheres System. Um Frequenzen und nicht um Phrasierungen, um Vibrationen statt Virtuosität.
Im zweiten Bogen vibriert die Hauptorgel. Die Musik hat keine Lautstärke, die Luft ist laut genug. An die Decke schauen, ausgesetzt den Wellen von Langsamkeit. Schweigen und Ausgeliefertsein. Die Geister lesen die Zahlen ab von den Matrizen, nehmen die Anstrengungen der Konzentration auf sich, damit die Gemeinde friedlich verdampfen kann. Darüber nachdenken, wie man sich je wieder aufrichten soll, um über ein Tattoo zu reden oder einen Turnschuh oder eine Instagramgeschichte.
Plötzlich, niemand wusste davon und es gab keine Angst, weder Panik noch Hektik oder irgendeine Regung kam zwischen den Bänken auf, da wurde es hell auf der anderen Seite des Kirchenfensters. Sehr hell. Und sehr heiss. Man sah die Strassenlaterne wie eine Kerze schmelzen und mit den letzten, lang ausgehaltenen Obertönen wurde alles Wachs, dann Dampf. Dann fertig.