Der Berner Autor Tom Kummer im Gespräch über seinen neuen Roman, die Stadt und alte Laster – und wie er dem Teufel auf dem Tenniscourt seine Entwürfe verkauft hat.
Bild: Christian Werner.
Die Autobahn in Ostbern rauscht nicht sehr. Ein leeres Tram schiebt sich am Waisenhausplatz vorbei – ansonsten kalifornisches Wetter über der kleinen Stadt, seit Wochen kein Regen. Die Sonne treibt uns bald in den Wahnsinn, in einen Albtraum aus hellen Farben und diktierter Freundlichkeit. Mein bleiches Gesicht spiegelt sich im Retinadisplay. Ich lasse die glucksende Melodie aufspielen, doch mein Date geht nicht ran.
Kürzlich ist Tom Kummers neuer Roman «Von schlechten Eltern» erschienen. «Es ist ein Sound, der diese tiefe Trauer über den Verlust der Frau, seiner Gattin, in sich trägt, all den Schmerz. Es ist ein sehr intimes Buch. Wirklich wie eine Musik, die sich durch das ganze Buch zieht, in Moll geschrieben.» Das sagt Nicola Steiner im Literaturclub. Der fiktionale Tom Kummer fährt als Chauffeur wichtige Männer durch die Nachtschattenschweiz und versucht dabei, mit dem Tod fertig zu werden. Mit dem Übrigbleiben.
Die Skype-Melodie – eine Musik, in Dur geschrieben, Soundtrack eines internationalen Freundlichkeitsdiktats bei stetiger Produktivitätssteigerung. Auch so ein kalifornischer Albtraum. Wir telefonieren über 2.5 km Luftlinie, die Heiliggeistkirche schlägt 15:15, Aufschlag.
Heute schon Tennis gespielt, Tom Kummer?
Schön wärs. Aber das dürfen wir momentan nicht, das Racket bleibt im Schrank. Eigentlich ziemlich lächerlich, auf dem Court steht man ja ohne Probleme zwanzig Meter vom Gegner entfernt – ausser man spielt verdammt offensiv, McEnroe-Style (lacht). Im Ernst: Als Präsident eines Tennisclubs stehe ich selbstverständlich hinter den Vorgaben des Bundesrats.
Was unterscheidet Tom Kummer auf dem Tennisplatz von jenem an der Schreibmaschine?
Nichts. Ich sehe da vor allem die Gemeinsamkeiten. Du hast einen Gegner, vielleicht ist es der Stoff, die Materie – vielleicht bist es Du selbst. Du musst dieses Gegenüber aus der Reserve locken, ein paar Winner schlagen und vielleicht zwischendurch einen Ball verkürzen. Game, Set, Match – it’s about the rhythm. In der Literatur ist das ganz ähnlich. Du musst auf dein Thema spielen, niemand wird dir beim Abwarten zusehen. Und manchmal ist dein Stoff eben so hartnäckig, dass Du ihn im Tiebreak niederringen musst.
Harter Stoff ist ein gutes Stichwort. In Ihrem Roman verhandeln Sie den Verlust Ihrer Lebenspartnerin. Wie sind Sie an den Text herangegangen?
Manche Autoren erzählen mir von der Suche nach literarischem Stoff, als wären sie Junkies mit Beschaffungsproblemen. Bei mir ist das komplett anders. Der Stoff findet mich, er sucht mich heim, literally. Die autobiografische Grundierung erklärt sich von selbst. Trauerarbeit ist ein Tanz mit den Zeiten, mit der Zeitlichkeit. Und selbstverständlich habe ich recherchiert. Der obskure, fast klandestine Glamour dieser Diplomaten- und Bankenwelt hat mich schon immer fasziniert. Und selbstverständlich habe ich mich verirrt und verzettelt in den nächtlichen Taxifahrten. Let’s put it like this: Ich habe drei Fassungen gebraucht, bis ich mit der Fassungslosigkeit der Trauer richtig fertig geworden bin.
Was ist aus den unveröffentlichten Passagen geworden?
Die habe ich dem Teufel vermacht für ein Paar neue Tennissneakers (lacht).
«Von schlechten Eltern» ist auch ein Männerbuch. Der Chauffeur, die eskortierten Diplomaten in teuren, fetischisierten Karrossen – alles Männer. Die Frau wird zwar als Fantasma auf der Windschutzscheibe lebendig …
… and that’s the point! Sehen Sie, dieser Text ist ein feministischer Text. Die Frau verschwindet aus der Welt, einer Welt, die von Männern für Männer gebaut wurde. Die soziale Architektur der Welt ebenso wie ihre repräsentativen Gebäude sind von Männern errichtet und dienen einzig der Machterhaltung. Den Frauen bleibt nichts übrig. Nichts, ausser zu verschwinden.
Das macht die Geschichte doch nicht zu einem feministischen Text.
Der Fluch, das ist das Entscheidende! Die Verschwundene lässt den Mann – als Strafe, oder besser: aus Rache – in einer tiefen Trauer zurück. Nach Einbruch der Dunkelheit herrschen andere Mächte als tagsüber. In der Symbolik und den Mythen der meisten Völker ist die Nacht das Chaos, der Schauplatz der Träume, sie wimmelt von Gespenstern und Dämonen, wie das Meer von Fischen und Ungeheuern. Sie ist weiblich, wie der Tag männlich ist, und wie alles Weibliche birgt sie Ruhe und Schrecken zugleich.
Es bleiben die Insignien einer aufgekratzten Männlichkeit: Die kryptische Wichtigtuerei Ihrer Figuren, die Luxusboliden, die Lust am Gaspedal, der Eskapismus der Schnellstrasse …
… der Mercedes! Es musste ein Mercedes sein. You know why? Er trägt diesen, nebenher bemerkt, äusserst anmutigen Frauennamen – die Tochter eines frühen Daimler-Händlers hiess so. Die Frau ist das Vehikel, verstehen Sie?
Das Buch kommt gut an in der Presse. Zweifeln Sie manchmal an der eigenen Arbeit?
Haben Sie den Literaturclub gesehen?
Ja. Nach Woody Allen hab ich ausgeschaltet.
Tingler got me there. Der Typ ist clever. Wie dich der Stoff findet, suchen sich auch die Zweifel ihren Weg: Habe ich genug aus der Materie gemacht? Habe ich die Tiefe meiner Empfindungen gründlich auf Papier gebracht? Manchmal, wenn ich spätabends auf dem Balkon meines Appartements stehe und der Autobahntunnel unten die Irrlichter ausspuckt, bin ich mir mit allem nicht mehr ganz so sicher. It’s part of the game.
Tom Kummer, sind Sie ein Masochist?
Als Schriftsteller muss ich das wohl sein.
Was machen Sie denn in der Schweiz? Sie zogen ins Berlin der Umbruchsjahre und haben sich in Hollywood neu erfunden. Haben alle an der Nase rumgeführt. Was suchen Sie hier auf diesem, wie Meienberg meinte, «fleissigen Fleck, wo Berge sich erheben wie Bretter vor dem Kopf»?
Du kannst weggehen. Ich musste weg. Aber die Schweiz bleibt an dir kleben. Diese kleine Stadt … Meienberg schreibt vom Zufall der Geburt, nicht? Ich empfinde es eher als Schicksal. Meine Rückkehr als duty to pay. Die Wunden sind verheilt, aber die Rechnung ist noch offen.
Können Sie Ihr Verhältnis zur Stadt etwas ausführen?
Ich wohne am Rand der Stadt. Da fühle ich mich wohl. Das Gefühl von Randständigkeit, nicht einer materiellen, aber einer ideellen Randständigkeit, war immer schon mein Antrieb. In Berlin bin ich auf die Raves gegangen und habe die Raver gehasst. In L.A. habe ich mich unter die Celebrities gemischt und deren Scheinwelt verachtet. Und gleichzeitig war die Faszination immer meine Triebfeder, eine Art abusive relationship mit den Geografien, die mir unter die Füsse gekommen sind. Das ist in Bern nicht anders – ausser, das ich mir Bern nicht ausgesucht habe.
Und dennoch: Sie sind Clubpräsident eines Tennisvereins, Familienvater. Und bald sechzig. Was ist aus dem Bad Boy Kummer geworden?
He’s still out there. Ich fahre in die Berge, abseits der Piste. Ich gewinne meine Matches auf dem Platz. Ich schreibe meine Bücher, erfinde meine Interviews und Reportagen. Not bad for a sixty year old fuck, isn’t it?
Die Sache mit den Fälschungen ist schon Jahre her.
Das sagen Sie.
Sie fälschen weiter? Wer kauft Ihnen das noch ab?
Sagen wir es so: Ich biete hie und da meine Dienste an. Die Zeitungen stehen unter finanziellem Druck, brauchen Stories, die knallen. Larger than life. Ich gebe Ihnen ein harmloses Beispiel: Stellen Sie sich diesen old man vor, ein Sänger und Lyriker, erzählt seine rasante Lebensgeschichte, katholisches Internat in der Provinz, Gewalt und Kleinkriminalität in der Grossstadt, Künstlerleben im Exil als letzte Chance. Das ganze Programm. Und er erzählt Ihnen, dass er mit 55 wieder heroinabhängig geworden ist …
… ich bitte Sie!
Stellen Sie sich das kurz vor.
Lügen Sie mich gerade an?
Die Inszenierung der Ehrlichkeit gehört uns selbst.
Tom Kummer: «Von schlechten Eltern», Tropen Verlag, 2020.