«Am liebsten würde ich im Berghain spielen. Im Raum vor dir wird auf der einen Seite gefickt, in der Mitte getanzt, auf der anderen Seite machen sie irgendwas anderes. Niemand weiss, wer du bist, das interessiert halt keinen und es ist sowieso auch egal.» Das sagt Olivier Zurkirchen, vormals Olan Galactica, jetzt nur noch Olan, mit Ausrufezeichen. Live, schiebt er noch nach, mit dem Modular spielen im Berghain, das wäre im Moment der grösste Traum. Olivier Zurkirchen aus Langenthal, der in Bern gelebt hat und heute in Zürich ist, sitzt spätabends am Küchentisch, zieht an seiner Dampfmaschine. Die Flaschen werden langsam leer und er sagt irgendwann: «Scheisse, ich erzähle hier meine ganze Lebensgeschichte.» Olivier hat gerade jetzt, wo alle Clubs tot sind, zwei EPs mit Clubmusik veröffentlicht. Eine als Olan!, Dancefloor, geradeaus, und konzeptuellere Ansätze unter dem Alias Ghostclusters. Doch dazu später.
Angefangen in Langenthal, in den Neunzigern zum Schweizer Mittelmass erwählt: Die Migros probiert hier ihre neuen Produkte aus, bevor sie sie auf den grösseren Markt wirft. Schweiz in a nutshell. Nicht mehr recht Dorf, bezeichnet sich die Ortschaft seit 1997 offiziell als Stadt, ein Stadttheater, kein Autobahnanschluss, tiefstes Mittelland. Der Bub Olivier Zurkirchen teilt sich mit dem zehn Jahre älteren Bruder ein Zimmer, es geht schon irgendwie, beide sind Gamer.
Der Vater will, dass der Junge einen Sport ausübt, die Mutter findet, er solle ein Instrument spielen. Also probiert Olivier Langenthals Sportangebot durch, nichts passt ihm so recht, jede Woche verleidet ihm etwas Neues. «Eishockey hat noch am längsten hingehalten.» Und die Musik? «Ich war extrem gut an der Blockflöte», sagt Olivier, später dann am Piccolo. Ein Schlagzeug war zu laut für die Wohnung in einem Mehrfamilienhaus, also Klavier. Vielleicht kommt es daher, dass er später, an der Jazzschule, bei der Schlagzeugprüfung abschifft: «Ich kann einfach nicht leise spielen. Man hat die Begleitband nicht mehr gehört, ich bin ständig aus dem Takt gefallen.» Beim Klavier bleibt er, aber zum Üben fehlt ihm bald die Lust. Es ist einer verständigen Klavierlehrerin zu verdanken, dass er weitermacht, weil sie ihn in den Stunden frei improvisieren lässt.
Als 1995 in Europa die erste Playstation auf den Markt kommt, sagt der Vater: «So ein Ding kommt mir nicht an den Fernseher.» Mit Mutter und Tante beim Lotto gewinnt Olivier einen kleinen TV, da kann auch der Vater nichts mehr sagen. Der Bruder hört damals schon viel Techno; das Mittelland vibriert an den Grossraumpartys auf dem Gugelmann-Areal, Roggwil BE. Ende der Neunziger erscheint das PS-Game «Music», und Olivier, etwa zwölfjährig, hängt sich rein. Er bastelt aus den Samples und Sequenzen so etwas wie House, dem Gehör nach, will dem Bruder zu Weihnachten eine CD schenken. «In Herzogenbuchsee gab es damals einen Plattenladen und direkt daneben ein Tonstudio. Dort bin ich mit der ganzen Konsole hin und die haben mir das über die Cinch-Kabel der Playstation auf eine CD gebrannt.» Sie heisst, mit Edding beschriftet: «DJ HAT». «Wie Hut», ergänzt er, «ich muss den Bruder mal fragen, ob die noch irgendwo ist.»
18. Dezember 2020, Olan schiesst seine jüngsten Tonerzeugnisse in den Orbit. «Instrumental Convergence». Fünf Zylinder, der Motor zündet sofort – Olivier will tanzen. Er hat den Koffer voll Module und wilde Fantasien im Kopf: Ein retrofuturistisches Videospiel geht an, man sieht nach zwei Takten schon einen Pontiac GTO von 1966 in den Nachthimmel fliegen, zuerst glimmt die Wüste, dann brennt Chicago, viertausend Fuss in der Tiefe – aber die Referenzen sind unverfänglich und die Hologramm-Karre verglüht, die Acid-Bassline vergeht im Nebel, Level-Up: Herzschläge, irgendwoher eiert diese gefährlich süsse Melodie, verduselt die Sinne, Brain-Fade, doch das Computer-Ich hat fünf Leben. Aufwachen in einem Bunker, da passen doch nie zweihundert Leute rein, es tropft von der Decke auf die nackten Schultern und zurück. Jemand fragt, was ich mache, verstehe nichts, der Bass ist überall, die Hats klatschen gegen die Betonwände. Olan, am anderen Ende des Raums, steckt den Kopf in seinen tollen Koffer und leuchtet.
«Es ist geil, die Menschen zum Tanzen zu bringen», sagt er, ohne sich in diesem eigentlich schmierigen Satz zu verfangen. Irgendwann im Sommer, plötzlich doch noch Party, 40 Grad im Luftschutzbunkerschatten: Olivier steht nach einem seiner einzigen Live-Auftritte in diesem Jahr an der Bar, erzählt vom neuen Projekt, ebenso begeistert. Unter dem Namen Ghostclusters erscheint es im November als «Mode Collapse», fünf Tracks, wieder auf dem eigenen Label. Er hat dafür hunderte Musikschnipsel an den Computer verfüttert. Die experimentierlustige Hirnhälfte übernimmt das Ruder: Was bei Olan verlässlich vorwärtspeitscht, endet hier in einer grossartigen Stolpermusik, die sich die Abschaffung der gewohnten Raster herbeiträumt, Breakbeats streift, Breakbeats wieder abschafft, überhaupt immer wieder alles abschafft, das Angenommene und die Annehmlichkeiten. Eigentlich ist das Projekt Ghostclusters ein Duo: Oliviers Mitmusikerin ist die Künstliche Intelligenz, die ihm mit den Ansätzen von Machine Learning neue Spielregeln offeriert. Aus der Frage «Hey Computer, wie klingt das?» entsteht am Kern der elektronischen Handarbeit eine neue Musik, dargeboten von der digitalen Geisterhand.
«Ich mag es, wenn ich volle Kontrolle über die Musik habe», sagt Olivier, «aber das Gefühl, sich zurücknehmen zu dürfen, nicht alles selber zu steuern, das vermisse ich manchmal schon – das ist das Schöne, wenn du mit Leuten zusammen spielst.»
Auf die Idee, laute Musik zu machen, kommt man in Langenthal für gewöhnlich im Chrämerhuus. Ein hübscher Riegbau aus dem 18. Jahrhundert, einst Krämerladen und Spezerei, seit fast vierzig Jahren das Kulturzentrum der Stadt. Weil man sonst nirgends weg kann, verschlägt es einen dahin in der Pubertät, die ersten Nächte im Ausgang werden mit Long Island Ice Tea zugeschüttet, 15 Franken, garantiert besoffen. Nicht selten hallen in den Nullerjahren gute Bands durch den Saal der Beiz, krachts aus den Verstärkern, bis fast die Holzdecke einstürzt – und wie Olivier fängt den einen oder die andere Langenthalerin in der Stube des Chrämi der Fluch, selber Musiker*in zu werden.
«Oli, geh in eine Schülerband», rät ihm der Bruder, die Foolz retten sich von der Oberstufe ans Gymnasium, eine Emo-Band kommt dazu und Olivier hat das Microkorg-Keyboard umgehängt wie ein Prinz. Zwischen Myspace, Pausenplatz und Chrämi gibt es Gleichgesinnte, Domi Chansorn will ebenfalls Musiker werden, die beiden spielen oft zusammen. Olivier legt eine an Fantasy-Stoffe und deren Kunstsprachen angelehnte Rockoper als Maturarbeit vor. Die Erwachsenen sagen Bravo, fragen: Und jetzt? Ab an die Musikschule oder dann halt Linguistik studieren. Auch Domi bewirbt sich in Bern an der Jazzschule. Die Prüfung macht Olivier nervös wie nie und als beide ein netter Telefonanruf erreicht, freuen sie sich wie Brüder.
2017 und 2018 sitzen Olivier und Domi bei Fai Baba im Bandbus, spielen in jeder Stadt, die auf Europas Tourkalender was hergibt. Die Zeit fühlt sich an wie ein übersteuertes Roadmovie. An manchen Abenden kann man sich schwer vorstellen, wie die vom dauernden Exzess gezeichnete Band ein weiteres Konzert überleben soll. Ohne Chemie ist das kaum zu haben, aber Musik ist das Heilsamste auf der Welt – nach eineinhalb Stunden Ekstase fliegt der kleine Wanderzirkus die nächsten fünfhundert Kilometer über Europas Nationalstrassen. Jeden Abend spielen. Einer wie Olivier Zurkirchen muss spielen, «das vermisse ich heute», sagt er. Einmal, kurz vor dem ersten Lockdown, spielt er auf einer kleinen Hausparty im Aussenquartier. Statt anständigen Lautsprechern gibt es eine Stereoanlage, statt einer Gage ein paar Bier. Olivier verkabelt wie immer etwa eine Stunde lang seine Module und macht, was er eben macht.
Das sind die wenigen Ausnahmen in diesem Jahr. Auf Olans «Instrumental Convergence» findet sich, Nummer 4, der Track zum trägen Jetzt. «Hey was bisch am mache?» fragt das Stück 177 Mal, eine Antwort gibt es nicht. Niemand macht grad irgendwas, das sich gut erzählt. Vielleicht ist dieses lakonische Stück Zeitgeschichte auch deshalb im Begriff, ein kleiner Internethit zu werden. In den sozialen Medien geht die Frage um: Hey was bisch am mache? Hey was bisch am mache? Hey Oli, was bisch am mache? «Manchmal verdiene ich etwas Geld als Webdesigner. Ich habe zwei Kunden: Ein Wellnesshotel und ein Rollladengeschäft. Sonst? Chillen und Gamen.»
Olan! «Instrumental Convergence» ist am 18. Dezember erschienen. Ghostclusters «Mode Collapse» am 20. November, beide auf 0x01 Records.
Bilder: Marius Eckert, Lea Huser und Simon Habegger.