Idealismus oder nie

Als wenn nichts gewesen wäre, letzten Freitag, ein Konzertabend im Bad Bonn. «Ich hätte nicht damit gerechnet, dass sie das durchziehen in Düdingen, yé!», schreibt jemand per SMS und kommt dann trotzdem nicht. Dafür geistert in den Sozialen Medien ein Post mit dem Slogan: «Kultur ist systemrelevant!»

Scheisse, wir sind Bordsteinschwalben. Puffmutter Kulturindustrie, lass uns nicht fallen. Ficken ist wichtig, gerade in der Krise, lasst uns weiterficken, unbedingt. Und dafür streiken wir dann alle, wenn die Spritze kommt und die Massnahmen aufgehoben sind.

Oder dann doch lieber wieder mitmachen, anpassen, hochkommen? Kultur ist systemrelevant.

Idealismus ist eine alte, schwere Kiste. Manche mögen zwar behaupten, dass mit den Jahren und mit den grauen Haaren Sandsäcke von ihr abfielen und dass die heisse Luft im Ballon ganz von selbst zugunsten der Bodenhaftung entweiche – andere sagen, Ausnahmen bestätigten diese Regel nicht.

Seis erstmal drum, ich bin schliesslich alleine auf dieser Zugfahrt von Bern nach Bonn und Instagram macht mir zusätzlich die Langeweile kaputt. Heilige, unbefleckte Langeweile – dunkles Refugium der Fantasie. Das Territorium steht unter Besatzungsmacht, wenn ich mich so umsehe in dieser S-Bahn, vom ewigen Durchwalzen der Bilderfluten und dem Daddeln irgendwelcher Idiotenspielchen. Könnte man das Fenster noch aufschieben hier, ich wollte meinen Knochen aus dem Fenster schmeissen. (Würde ich doch nicht – die Verspiesserung ist ein schleichender Prozess, wie Sand, der aus einem Sack rinnt.)

Ein Ort der Ruhe – wo Zigaretten, als wären sie nicht mehr als vom Spinnrad versponnene Spinnweben, ewig brennen – oh silberne Langeweile, ein Ideal unter dem Hexenhammer. Privileg der Vergoldeten, dekadente Gewohnheit von vorgestern.

Aber wer verteidigte den Strand, der ihn selber nie gesehen hat?

Ich wechsle von den Bildern zu den Nachrichten und lese einen Artikel aus der «Zeit», der mir mein persönlicher Algorithmus (ich nenne ihn Kassander) anzeigt. Es geht um Religionsterror und andere Heiligtümer, um die grossen Ideen der Linken. Freiheit, Gleichheit und der ganze Kram. Unter Beschuss von religiösen Spinnern. Frankreich, Wien, Saudi Arabi Money Rich. Der Autor – ein Liberaler – sieht sich als Retter der aufklärerischen Ideale und ist, zusätzlich süffisant, um einen Schulterschluss bemüht:

Die europäische Linke muss ihren naiven Antiimperialismus ebenso ablegen wie den naiven Glauben, der benachteiligte sei automatisch der bessere Mensch. Beide Haltungen wurzeln übrigens in einem romantischen Paternalismus, der mit dem europäischen Kolonialismus mehr gemein hat als Linken – und Liberalen – lieb sein dürfte.

Selber Paternalist, du alter Sack. Ja, nämlich – ich gebe den Strand nicht auf, hast schon recht. Aber nicht zum Preis einer Verbrüderung mit Geistern, die eine Zurück-auf-Feld-Eins-Strategie unter freiheitlicher Einigung camouflieren und ganz nebenher den autoritären Schulmeister mimen:

Von Anfang an war der Islamismus antiimperialistisch und antisemitisch. Seine Gründer verstanden die Rückkehr zu den Wurzeln der Bewegung, die Ablehnung von Demokratie und Liberalismus, als einzige Möglichkeit, die verderbliche und verjudete Herrschaft des Westens abzuschütteln. Damit aber tritt der Islamismus in Konkurrenz zur Linken – …

Ich scheiss dir auf deine reduktionistische Tarnkappe. Als hiesse Idealismus einfach, alte Hüte zur neuen Mode erklären und durchgesessene Sessel aufpolstern – das hat schon einen Namen: Reaktion.

«Nächster Halt Düdingen», wurde schon Zeit, die Nerven leiden auch.

Der Weg vom Bahnhof zum Klub am Waldrand ist immer von stoischer Lust, Laufen bis zum Licht im Häuschen. Der Mond spottet aus der Distanz in seiner List, die Maisfelder sind gemäht. In eine Hecke seichen, der Boden dampft, Schlendern ist die schönste Zeit des Lebens – den Rest spaziert man sich kaputt. Bedürfnislosigkeit ist eine Coping-Strategie und nicht einfach tugendhaft im mönchischen Sinne. Das meinte lebend tot – steht mir aus der Sonne – Diogenes hätte auch lieber ein Fest gehabt in seiner Tonne. Aber er war Idealist.

Auf dem Strässchen klebt ein Frosch, eingefahren in den Asphalt. Sein Rücken zeichnet das Positiv eines Reifenprofils. Warum bist du nicht vorher aus dem Topf gesprungen, armer Tropf, als das Wasser immer wärmer wurde, bevor es kochte und plötzlich einfach zu spät war, lieber Frosch?

Als ich mit meinem Gesicht ganz nahe an dieses Häufchen Elend herangehe, in der naiven Hoffnung das Amphib reanimieren, tatsächlich wieder aufpumpen zu können, da plötzlich und ohne mein Zutun beult sich sein Köpfchen auf, springt, wie ein Popcorn, in Form. Und der Frosch spricht:

«Weil ich gemacht habe, was ich machen musste. Weil sie mir sagten: Geh, Toller, geh nach dem Schmetterling! Und weil ich dann zuschauen musste, wo ich bleibe, als er weg war. Ich habe nicht gemerkt, dass das Wasser immer heisser wurde, Urs! Die Apokalypse ist ein schleichender Prozess. Alles was schon lange scheisse ist, wird immer beschissener. Bis dir nichts anderes mehr bleibt als in Scheissehaufen nach Perlen zu pulen! Jede Krise eine Chance, haben sie gesagt, richtig, diese Strasse genau, diese Katastrophe von schlaglöcheriger Piste, ich habe die Chöre beim Gesang genommen, sie waren meine Möglichkeiten zum Freitod. Was du hier siehst, das war kein Unfall – es ist mein letzter Wille!»

Angekommen im Bad schliesslich, bin ich um die stabilen Stühle da ganz froh, diese gesteckten Stabellen und um die grosse Flasche Bier, Augen, die mich trösten, ohne dass ich um Trost gebeten hätte, ein Hafen. Casanora tritt auf die Bühne und beatmet uns – zwanzig Nasen, die wir zwar nur sind. Obwohl das hier das einzige Konzertlokal im Umkreis von zweihundert Kilometern ist, das noch Untergrund veranstaltet in der jetzigen Situation. Kein Slogan zur Systemrelevanz zu sehen, höchstens «Kultur ist immer noch ein dünner Lack, der sich in Alkohol auflöst». Ein Schutzheiliger aus Thun ist da und ein Verlorener knallt vom Barhocker, samt seinem Humpen und Arme greifen unter seine Schultern – Casanora beatmet uns.

Ihr herzschnell wandelndes Viermalvier – sie in der Dunkelheit – Projektionen von Stadtschluchten und Brücken, Kranen, Viechern und Menschen in verdrehter Farbigkeit bannen unsere Blicke. Es gibt sie, die Strände, die alle kennen, spielt mir die Musik: das Bewusstlose und das Bewusste, das Reale und das Ideelle, Materie und Geist, die Selbstheit und die Liebe. Das ist verdammt nochmal Schelling!

Casanora ist das scheissegal, Tod den alten Helden, scheiss auf den Universalismus, ihre Welt, ihr Ausdruck, meine Gedanken dazu. Scheisse, wir sind postmodern und die Zukunft ist schon viel zu lange auf Pause.

Alles kann einmal anders kommen oder wiederkommen, die Langeweile vielleicht sogar, wäre ich heute mit dem Auto gekommen, hunderttausendmal anders kommen.

Warum denn nicht gerade jetzt, Idealismus, oder nie.