Im Einklang mit den Algen

Meer hören mit dem Film Atlantic Ragagar am zwölften Norient Festival in Bern.

Gilles Aubreys dokumentarischer Kurzfilm ist gleichzeitig eine wissenschaftliche und eine musikalisch-lyrische Auseinandersetzung mit den Algen an Marokkos Atlantikküste. Marokko ist einer der grössten Lieferanten von roten Algen, deren Pulver unter anderem zur Herstellung der Gelatine-Alternative Agar Agar genutzt wird. Die Basis des Filmes ist die Forschung des Biologen Younes Boundir. Er erhebt Daten zu den roten Algen und der Verschmutzung ihres Lebensraumes. Gemeinsam mit der künstlerischen
Interpretation von Imane Zoubair thematisiert der Film die Stressfaktoren der Algen an den Küsten der Städte El Jeddida und Safi. «Safi» ist die latinisierte Form von «Asfi», was Flut bedeutet. Die Beziehung zum Meer und seinen Launen trägt die Stadt somit in ihrem Namen.

An der Küste ist auch eine der weltweit grössten Phosphor-Industrien, die OCP Group, stationiert. Eine Firma, die von nachhaltigem Wachstum spricht und sich auf ihrer Webseite als grün und sozial verkauft, aber dann nicht davor zurückschreckt, radioaktiven Abfall direkt ins Meer abzulassen. Der radioaktive Abfall dieser Industrie landet in der Luft, den Lungen der Arbeiter:innen (die OCP Group ist die grösste Arbeitgeberin Marokkos) und Bewohner:innen und durch Abfallrohre der Firma direkt im Meereswasser, wo sich radioaktive Krusten auf den Korallen bilden. Der Lebensraum der Algen wird zerstört und sie können nicht mehr wachsen. Boundirs Forschung verfolgt die Meeresverschmutzung durch Phosphor und Schwermetalle. Bei der Sammlung von Proben spricht er mit den Algenpflückerinnen, welche selbst rote Algen sammeln, um sie zu verkaufen. Eine ihrer Aussagen lautet: «C’est toujours les grands qui profitent.» Die Geschichte des Filmes also: Wie der Profit der Grossen, der OCP Group und ihrem radioaktiven Abfall, massive Umweltszerstörung und Gesundheitsprobleme anrichtet, während die Algenpflückerinnen in Safi und El Jeddida mit gerade mal 10 Dirham pro Kilogramm, das sind umgerechnet etwa 90 Rappen, schlecht und auch oft zu spät bezahlt werden. Während die OCP Group ihre Umwelt als «abstrakte Ressource», als «Datenmeer» ansieht, wie es im Film heisst, sucht Künstlerin Zoubair nach einem empathischen und verkörperten Umgang mit dem Atlantikleben. « Écoute! » – mahnt sie uns zuzuhören, was das Meer zu sagen oder zu singen hat, den Unterwassergeräuschen zu lauschen, die zum Leben der Algen gehören. In gewissen Szenen sehen die Algen aus wie lange Arme auf der Suche nach einer Umarmung. Zoubair kommt diesem möglichen Wunsch entgegen, versucht die Stimmung aufzunehmen, singt, atmet und spricht ins Meer, und lässt in liebevollen Gesten ihren Kopf auf die Wasseroberfläche sinken – «Caresse!» Sie pflegt eine immer da gewesene Verbundenheit, für sie sind die roten Algen das Kleid des Atlantiks und der Atlantik wiederum die Decke für die roten Algen. Diese praktizierte Verbundenheit steht im starken Kontrast zu den Profitprozessen globaler Industrien.

Zoubairs Tonabfolgen, die den Film akustisch unterzeichnen, sind eine Interpretation der von Boundir von Hand gezeichneten Graphen der erhobenen Phosphor- und Schwermetallverschmutzung an der Küste zwischen El Jeddida und Safi. Der Klang ist schmerzhaft und das soll er auch sein, es ist eine emotionale Antwort auf die zerstörerische Entwicklung. Die Fragen der Klimagerechtigkeit, die der Film aufwirft, werden allumfänglich miteinbezogen. Denn was die Algen zerstört, macht auch die Menschen krank. Und das ist vielleicht auch, was wir aus diesem Film mitnehmen sollten; dass angeblich verschiedene Elemente selten klar voneinander trennbar sind. Wirtschaftsgetriebene Umweltzerstörung zeigt sich in verschiedensten Formen und macht vor keinem Lebewesen halt. Die Stressfaktoren, denen die Algen ausgesetzt sind, stehen in direktem Zusammenhang mit der Gesundheit der Bevölkerung und erschweren die Arbeit der Algenpflückerinnen. Zoubairs Gedicht «Maouj» – Welle – das den Film beendet, erzählt von verbundener Anwesenheit, vom Einssein von Wasser und Körper, von Ebbe und Flut und vom Zuhören, mehr Hören, vom Meer Hören.

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Februarausgabe des KSB Kulturmagazins.