Neun Uhr Null Null und wir sitzen im Zug Richtung Hochnebeldecke. In Luzern spielt noch bis morgen Sonntag das Fumetto, die Kultkiste, die Bad Bonn-Kilbi des Comics. Aus dem Bahnhof tritt unser Grüppchen unter ein blendendes Himmelgrau, welches von vier F-5E Tigers der Patrouille Suisse derart zugedonnert wird, dass es den japanischen Touristen vor uns Freudentränen in die Augen schiesst – angesichts dieser zelebrierten Wehrhaftigkeit. Chauvinistische Folklore, das ist Luzern – eine Kulissenstadt. Vielleicht ist genau deshalb hier Fumetto, damit man am See die Mimik nicht vergisst ob so viel Maske.
Die Japaner bleiben draussen, bis auf einen, der ist schon drin: Keiichi Tanaami. Wir betreten die chromstahlgebürstete Treppe des KKLs und dessen Räume, das Licht ist weich und Keiichi ein alter Mann, Jahrgang 1936 und einer der einflussreichsten Künstler Japans. Seine Collagen, Drucke, Gemälde und Skulpturen sind Pop, da knallt alles aufeinander: Krieg, Kunst, Lust – die ganze Kapitalismuspalette und alles psychedelisch übersteuert, in ikonografischer Qualität. Ein Gewaltswerk – das Fumetto zeigt Muskeln und macht deutlich: Comic ist die Klammer, dazwischen sind wir Kunst.
4.50 für den Espresso im KKL Café, man sieht über den See – Dunst, Möwen und an der Schifflände liegt die DS Unterwalden. Wir schlendern zum Hotel Schweizerhof, dort sitzt Emil Ferris – Artist in Residence – im Ohrensessel und kritzelt mit Kugelschreiber in ein liniertes Tagebuch. So eines hatte die Amerikanerin 2017 veröffentlicht: «My Favorite Thing is Monster», 400 Seiten lang: Gruselgeschichte, Kunstführer, historische Grafic Novel und vielleicht gar ein queeres Manifest? Emil Ferris gilt als eine der wichtigsten zeitgenössischen Comic Autorinnen überhaupt.
Vom Schweizerhof wechseln wir in die Kunsthalle und von der Schraffur als Stilmittel zum schier flatterhaften Strich von Joann Sfar und von Chicago nach Nizza schliesslich auch, dort hat der maghrebinische Jude nämlich Philosophie studiert, bevor er nach Paris wechselte für die Kunst. Film und Comic, das sanfte Biopic «Gainsbourg – vie héroïque», Essays, Romane und ein Riesenhaufen Bandes Dessinées – «die Katze des Rabbiners» das bekannteste. Seine Produktivität und Brillanz macht betroffen. Sein Werk zeigt sich immer spielerisch, von einem schlichten Romantizismus durchwirkt und Humor ist da sowieso an allen Ecken und Enden. Das ist so stimmig, dass es zum Angst kriegen ist. Und dabei muss dieser nervöse Zeichenstil nicht mal gefallen.
Dann also mal durchatmen und Eva raucht eine Zigarette – wenn das Fumetto ein Problem hat, dann dass es die Grenze der Aufmerksamkeitsspanne uns verwirrter und begrenzter Geister schnell mal auslotet. Hie und da wünscht man sich mehr Luft, ein Panel weniger, ein Rahmen abgehängt – zugunsten des Dazwischens und der Leichtigkeit. Wir brauchen mehr Lücken.
Erinnerungslücke, irgendwas war da noch mit Rebus und dreidimensionalen Comics auf halbem Weg in die Galerie und zurück, aber wir eiern mittlerweile stabil unterzuckert durch die von Scheissgeschäften flankierten Gässchen in der Altstadt: Victorinox overdose und hässliche Neureiche, wir müssen essen Freunde. Danach fliegen wir zu Satelliten, den kleineren Ausstellungsorten für Newcomer*innen und local heros. Auf dem Weg zurück an den Bahnhof stehen Chinesen mit tobleronebestückten Rucksäcken am Quai und fotografieren die dumpfe Helligkeit, in welcher die Kappelbrücke an diesem Nachmittag steht. Über ihnen erbricht lauthals der Himmel – die Patrouille Suisse ist noch immer auf Showflug. Leute mit bleichen Gesichtern klatschen den Fliegern zu und wenig später besteigen andere Leute mit einem Leuchten den Zug, im Wissen: Luzern hat soviel mehr zu bieten – wenn Fumetto ist.