Insta/nofilter: Ein Scheissloch

Natürlich ist das auch ein Rückzug: Der Sonntagnachmittag als Konzertmoment, als bester Sonntagnachmittag, den man sich wünschen kann – ein idealer warmer Ort alternativ zu Badewanne oder Bett. Alle sind furchtbar froh, nicht daheim um ein dunkles Loch herumschleichen zu müssen, dafür vier Campari Soda an der Bar, viele liebe Menschen und eine Musik, während es draussen auf einmal ganz schnell dunkel wird. Dampfzentrale, Saint Ghetto, letzter Tag – und Vanishing Twin, endlich.

Ein Rückzug: Es ist gerade wenig lustig, sich durch die Nachrichten zu wischen oder in der Innenstadt aufzuhalten, zum Beispiel am Donnerstagabend. In Wien zum Beispiel gab es am Samstagnachmittag eine sehr grosse, ungemütliche Demo, angeführt von Rechtsextremen, Vertreter*innen der identitären Bewegung, der FPÖ und weiteren. Auf Twitter wird erzählt, ein fünfzehnjähriges Mädchen mit Kopftuch sei von Nazis umkreist, beschimpft und angespuckt worden; die Teilnehmer*innen der Demo trugen gelbe Sterne mit der Aufschrift «Ungeimpft» auf der Brust, was in Österreich, nicht wie hierzulande, nicht nur völlig geschmacklos, sondern tatsächlich eine Straftat ist.

Österreich macht Lockdown und Impfpflicht, das ist schon sehr heftig, aber heftig auch die Zahlen. Die Schweiz dümpelt weiter, einen milden Winter wird es hier ebensowenig geben. Und am Wochenende ist Abstimmung, man kriegt langsam wirklich Angst, die SVP warnt vor der «Spaltung der Gesellschaft» und hat doch selber das grösste Interesse, diese voranzutreiben – siehe alle Initiativen der SVP der letzten Jahre, Minarette, Ausschaffung, «Masseneinwanderung», «Selbstbestimmung» – es drängt sich zumindest der Verdacht auf, dass es dieser Kraft und all jenen ihr ähnlichen, die sich um sie herum nun bündeln, gar nicht so sehr um Corona geht, sondern um das Abgreifen und Bespielen von verunsicherten Menschen.

Immerhin da scheinen sich alle einig zu sein: Niemand will einen Lockdown, schon nur nicht wegen oben erwähntem dunklen Loch. Man darf dem Staat natürlich immer misstrauen, aber man kann sich auch fragen, ob die Zertifikatspflicht (mit der zugehörigen sehr datensparsamen Lösung) nicht doch das kleinere Übel darstellt – wenn wir es dafür schaffen, nicht alles wieder runterfahren zu müssen. Ausserdem gibt es den Lieblingssonntagnachmittag (Konzert!) bald nicht mehr ohne staatliche Finanzhilfen für Kulturorte und alle andern kleinen bis mittleren, die, es wird von manchen gern vergessen, mit dem Gesetz ebenfalls geregelt würden. Und ohne die wir am Ende wirklich alle im Loch sind. In einem Scheissloch.

Und damit zurück zu gestern. Man hätte sich auch vorstellen können, dass diese Band Vanishing Twin ihre verträumte, trotz allem utopieverliebte Musik in einem Jazzclub spielt, ein rotdunkler verrauchter Raum, Whiskey im schweren Tumbler und zwei Uhr nachts. Das sagt Heiko, natürlich hat er Recht. Die Band wie eine gut funktionierende Wahlfamilie, die einander aus Vertrauen viel Platz geben, unterschiedliche Geschöpfe zu sein: Sängerin und Gitarristin Cathy Lucas als ephemeres Wesen in Schwarz und Weiss, schafft das Kunststück ebenso entrückt wie sehr präsent zu wirken; Bassist Susumu Mokai die Seelenruhe selbst – könnte auch sein, dass er gleichzeitig über etwas gänzlich anderes nachdenkt; Phil M.F.U. als vordergründig stiller, aber natürlich heimlifeisser Hexer am Synthie – und Valentina Magaletti als gar nicht so heimliches eigentliches Highlight, spielt ihr Schlagzeug als würde sie einer angeschwipsten Runde einige lustige, sehr gut pointierte Geschichten erzählen, so dass ihre eigene Laune nur mehr besser wird bei jedem Scherz.

Es sei ein kleines Wunder, hier zu sein, sagt Lucas, zweimal wurde das Konzert in der Dampfzentrale verschoben, das letztjährige Saint Ghetto abgesagt. Heute klappt es. Aber es liegt schon wieder diese Stimmung in der Luft, die Leute erzählen von Holland, von Österreich, Deutschland, von Ausgangssperren und den ewigen Zahlen, da hilft auch irgendwann der Alkohol nicht mehr. Vielleicht fällt es Hernâni Marques, Sprecher des Chaos Computer Clubs, Low-Covid-Aktivist und Vertreter eines linken, netzpolitischen Neins zum Covidgesetz – vielleicht fällt es ihm leicht zu sagen, dass die Schweiz dann schon nicht untergehe, wenn die Clubs wieder schliessen. «Wir werden schon nicht alle sterben», wie er in einem Streitgespräch mit dem Grünen Balthasar Glättli gegenüber der WOZ sagt – ja, natürlich, sicher nicht sofort und wohl nicht alle auf einmal. Dass es aber auch Menschen gibt, die von einem Konzert oder einer Clubnacht eine Woche lang zehren können, die das natürlich nicht zum Überleben brauchen, aber doch irgendwie schon; dass es Leute gibt, die ihre ganze alltägliche, mühsame und überzeugte Arbeit in diese Kulturorte stecken, die die Covidgesetzgegner*innen zu überfahren bereit sind, das kann Marques an seinem Computer ja egal sein.

Mir ist es nicht egal. Und darum kommt, es passiert ja selten genug, von eurem KSB hiermit eine Empfehlung: Geht abstimmen, sagt Ja zum Covidgesetz am Sonntag. Es ist wirklich das kleinere Übel.

Ausserdem, wenn ihr schon dabei seid, auch Ja zur Pflegeinitiative, weil die Zustände in der Pflege eine Frechheit sind, mehr Argumentation zum Beispiel bei den Freund*innen der Wochenzeitung. Für alles andere sei an Rahel Ruch verwiesen, die wie immer die Dinge trocken auf den Punkt bringt.

Insta/nofilter: unverdaute, betrunkene und nachtwache Kultureindrücke, rausgeschossen als gäbs kein Morgen.