Insta/nofilter: Protokoll einer Stadtflucht

Insta/nofilter: unverdaute, betrunkene, nachtwache Kultureindrücke. Rausgeschossen als gäb’s kein Morgen (dabei gibt es natürlich immer eins).

Sicherungen durch, Schlaf war nicht mehr, Rhythmusstörungen und Flackern vor den Augen. Am Morgen das Telefon von L: «Komm auf den Zug, wir gehen auf die Alp, sonst ist’s aus.» OK.

Verdrängung, Verlustangst und Fluchtreflex sind Gründe zum Abhauen – Erholung ist ein bürgerliches Konstrukt, wie die imprägnierte Regenjacke in meinem Rucksack.

Im Zug auf Zürich riechts nach 2. Klasse, penetrante Düfte aus einem Abteil mit so Marionnaud-Tweens, gegenüber stickige Hunde und weiter hinten eine Fraktion Red Bull Faschisten in Fila. Ab Richtung Zug consulting engineer aka Nihilist am Laptop neben mir – ich bin froh riechts noch immer nach 2. Klasse.

Dann Bellinzona, Postauto, Schmugglerpfad. Endlich da – kein Strom, kein Netz, kein fliessend Wasser. Dafür klingt hier die Stille: gurgelnder Bach, Magerwiese satt von Zirpen und jeder Kubikmeter Luft summt vor Viechern.

Ein taglanges Regentuch legt sich auf unseren Steinhaufen. In der Nacht schon stumme Blitze, der Wald ein Scherenschnitt vor aufblinkenden, dampfenden Weisstönen – Himmel. Dann bodenlose Schwärze. Das Gewitter erst im Morgengrau, Donnerorgie nach Max Frisch und im Flussbett knallen holpernde Felsbrocken aneinander als spielte wer Billiard mit überdimensionierten, kantigen Kugeln – Baumstämmen als Spielstöcke. Es riecht nach Feuerwerk trotz Nässe, durchs Dach – Wellblech rostet auch und das Regentuch webt sich aus Bindfäden.

Eierschwämme wie Goldadern von unter dem Moosteppich – gottverdammt zum Kotzen schön mit den ersten Strahlen im Unterholz. Dem Weinen nahe, Achtung! Gefühle fallen einen an wie tollwütige Wolfsrudel – zum Glück sind da nur Murmeltiere (doch die sind viel grösser als man denkt).

Am Abend Pilzpfanne über offenem Feuer, angeheizt wird mit dem Bund vom letzten Montag, Plastikfolien von Speckschwarten und einem Rilke Sammelband. Danach Kartenspielen und Havana Club, Marco Camenisch im Kerzenschein und Albträume von nuklearen Wolken.

Warum nicht die 2. Röhre sprengen, warum nicht Wandern ohne Ziel, warum nicht Umkehren auf halbem Weg, warum nicht einfach stehen bleiben? Zu absolvierende Passhöhen den Söldnern, der Gipfelrausch den Regenjacken – Funktionalität ist die Keimzelle der Biederkeit.

Wir spazieren in schweissschweren Baumwollhemden, im schönsten Licht des Landes, in Scham verbunden mit diesem Boden, wir sind müde und legen uns schlafen, zwischen versprengten Findlingen und einer Eselstute mit ihrem Kleinen.

Grössenwahn auf dem Rückweg – fünfundzwanzig verschiedene Schmetterlinge auf fünfhundert Meter Strecke, Eidechsen, Schwebefliegen, Spinnen, Waldfarn, Wurmfarn, Pelzfarn, Pillenfarn: Biodiversität ist antidemokratisch, jeder kleinsten Minderheit sein Plätzchen und die Mehrheit hat zu schweigen, weil sie die Nische nicht zu überwuchern versteht. Schmunzeln bei Rotwein aus dem Kartonbeutel, auf dem verbeulten Transistor läuft nur italienisches Folterradio oder DRS 1 unter Rauschen – irgendetwas dazu, wie man den Einfamilienhausgarten naturnahe kriegt: sicher nicht mit Hortensien.

Kein Empfang seit fast einer Woche und trotzdem vibriert ab und an die Hosentasche, kann man schlimmer nach Rauch stinken? Und frische Windeln für den Jüngsten wären auch noch gut. Schreibmaschine braucht Saft, der Tresen verspricht Halt und das Sportpanorama spendet Trost am Sonntag. Aufbruch Richtung Siedlung – Zerrissenheit galore und zum Bleiben kommen wir noch lange nicht.