Insta/nofilter: Tief in der Hochnebelwiese

Insta/nofilter: unverdaute, betrunkene, nachtwache Kultureindrücke. Rausgeschossen als gäb’s kein Morgen (dabei gibt es natürlich immer eins).

Irgendwann in der Nacht vom Donnerstag, oder ist schon Freitagmorgen früh, der Drahtesel erlahmt am Stutz zum Wyler und bleibt stehen. Wir nutzen das Innehalten uns zu umarmen, der Sebi und ich, strassenlampenblind – das Lammfell seiner Fliegerjacke riecht kräftig. Wir halten uns gegenseitig stabil in der Hochnebelwiese.

Annie Proulx:

The fog tore apart, light charged the sea like blue neon.

Wer nichts zu tun hat, geht darüber hinweg, mit verspiegelten Scheibchen vor den Augen, in das Herbstklare, 800 Meter über Meer. Warum auch nicht? Dass sie sich die Haut verbrennen, wahlweise zukleistern mit Schutzfaktoren – wie das schon klingt. Der Plan Sonnencrème fabriziert eine faschistoide Pause: weisse Salbe, gegen die Angst und von Sicherheit. Dann lieber unter der Decke bleiben, und Füsseln.

Häuslichkeit ist denn auch konzeptzentral beim ersten Halt des Ausritts: Connected Space – der sich über die nächsten 15 Monate ausdehnende Staffellauf der selbstorganisierten Berner Kunsträume – an der Haldenstrasse 18. Fiona Köniz und Gregor Vogel aus Zürich haben sich in der Erdgeschosswohnung – als Airbnb-Loge genutzt – aller Möbel entledigt und projizieren die vorher fotografierte Inneneinrichtung an die nun nackten Wände. Wohnraum als White Cube und schon schwingt der Diskurs um Besitzverhältnisse, Nutzungsweisen: der Neubau, mit seinem Sichtbeton und in schlichtem Strich, reicht der Idee die Hand. Schattenwürfe entstehen ob den Bewohner*innen des Hauses und Gästen der Vernissage, die vor die Beamer treten und Prosecco trinken, Bier, Käse mampfende Kinder, ein Hämpfelchen von Büsi verspielt sich zwischen Nylonstrümpfen und Jeans, ein Glas geht kaputt. Connected Space bietet Kitt für die freie Szene. 22 Initiativen laden Künstler*innen aus anderen Städten, gehen an neue Orte, öffnen ihre Räume, vernetzen und vermitteln – und mehr Klarheit bringt immer Hingehen.

Ich trete den Esel quer durchs Zentrum Richtung Insel, unterhalb der roten Brücke, in einer Scheune, zwischen Bandsägen und Hobelbänken, debütiert ein neues Format: Dopot Vol1. Es scherbelt wieder und brummt, Molybdän: zwei Musikerinnen zu einem hybriden Organ verhangen. Wie einem Motor auf dem Dynamometer lauscht man dieser Maschine aus Akkordeon, digitaler Peripherie und Stimme – Sauerstoff, Nullen und Einsen sublimieren zu Klang. Danach spielt Casanora live vom Dj-Pult und draussen kocht Ingwergesöff in einer Pfanne, auf einem Ofen Marke Eigenbau: aus ehemaliger Gasflasche, kunstvoll vermählt mit einem Einkaufswägeli, fahrbar und robust. Es fehlt noch der Turbolader und man würde abheben können. Als Sprit diente Vodka.

Dazwischen Smalltalk zur Auswirkung von Unterbindung auf die Autokonzeption, zu der Notwendigkeit von Ultra-Sensorik und von heissen, heilenden Bädern in den Ozeanen des Untergrunds. Und zum Schluss davon, dass der uns allen innere Chor materialistisch gedeutet, nichts als profane Lieder von beliebigen Überempfindlichkeiten singt und wir das schlecht finden, das Gegenteil glauben wollen, obwohl es wahrscheinlich stimmt. So wenig ist sicher, immerhin.

Olli Schultz:

Eine verletzte Psyche – fängt an zu singen.

Und wir lauschen dieser Erzählung, die auch von Voyeurismus handeln muss, knapp 18 Stunden später – Eartheater in der Dampfzentrale zum Saint Ghetto. Heiser vom Schnee ist sie und manövriert sich, glitzernd ohne Zweifel, aber in eine Sackgasse. Von der eigenen Karosserie zuparkiert, von Egokrämpfen gehindert den Rückwärtsgang einzulegen, schade. Ghostpoet giesst die Unebenheiten aus, heisser Wachs fliesst aus den Füssen seiner Band in den Raum und hüllt uns alle in einen Massanzug englischen Zuschnitts. Sublimität birgt die Gefahr jeglicher Überzüchtung: Gendefekte, aber ach, die klassische Schönheit – wie nötig im Novembersatt unserer Seelchen.

Weitere 20 Stunden später auf Stippvisite bei gesehen 500 jungen Leuten, die ein ausgehöhltes Haus Mund zu Mund beatmen – Odem Sauvage, bevor die Immobilie saniert wird vulgo sterilisiert.

Die Hochnebelwiese liegt unter der Decke, im Nachtschatten. Über dem Meer wartet ausdruckslos nur die Sonne.