Jazz is not dead oder: Ein vergilbter Nuggi im Vorstadtsand

«Jazz is the freedom to create, freedom to be successful, freedom to not be successful, freedom to be who you are. It’s freedom.»
Patti Smith

«Where there is young people and vitality, you’re going to find jazz.»
Henry Rollins

«When jazz happened, it created an opening in the culture. It made it ok to think you could play music, even though you had no musical training.»
Kim Gordon

Zum Beispiel Katarina Poklepovic und Michele Quadri, den alle nur Sly nennen. Oder Bolognas schönstes Zeckenpaar So Beast – leben eigentlich nicht mal in Bologna, sondern in der Kleinstadt Molinella, 30 Kilometer nordöstlich von der Tortellinistadt. 40062 Molinella: eine einigermassen typische norditalienische Siedlung, mit einem schiefen Uhrturm im Zentrum. Es ranken sich die Anekdoten und es prangen die Bauten aus der Mussolinizeit in den Himmel, auf Wikipedia freilich verschwiegen. Da steht: «Der Frühling ist frisch und regnerisch, während der Herbst extrem nebelig ist.» So ist also der Himmel in Molinella. Katarina und Sly leben in einer Wohnung, ihrer eigenen, mit allerlei Spielzeug komplett überstellten, das Haus wahrscheinlich aus den frühen Dreissigerjahren: Razionalismo, er blättert ab. Sie leben da mit ihrem Kind und ihrem Hund, einem bemerkenswert selbständigen Strassenköter namens Lacu.

Letzten Samstagabend spielen die Zwei So Beast in Bern und Lacu springt aus dem vollgemalten Plastikkombi. Die Band fährt auf Einladung von Gastkuratorin Zooey Agro im Hof des Progymnasiums ein, das Festival heisst Jazzwerkstatt. Es möchte Wände herunterreissen, so fühlt es sich jedenfalls an.

Es ist dann kein besonders gutes Konzert. Zu hell, zu verzettelt, zu leise. (Aber nur Idioten beklagen sich über zu wenig Bass.) Natürlich sind da die Momente, wenn Katarina die Wörter zu spucken beginnt oder Sly und seine Trommeln mit den überdrehten Drum-Sequenzen spazieren gehen. Wenn einzelne Beckenschläge ins Luftloch sich anfühlen wie der zischende Mittelfinger der Nonchalance, das Gefühl von Shred – Dreck, Tags, Risse, verkautes Hundespielzeug und ein vergilbter Nuggi im Vorstadtsand. Dann kann es auch die recht volle Turnhalle fast ahnen: Dass So Beast im Geheimen die realste Band der Welt sind, eigentlich Skateboard-Jazzer, richtige Jazzer eben, weil sie wissen, wie sie umfallen müssen.

Wenn du denkst, du bist hart drauf: So Beast sind härter drauf. Zum Beispiel, wie sie schon vor eineinhalb Jahren in Bern gespielt haben, sieben Stunden Hinfahrt, dasselbe Plastikauto, derselbe Hund. Wie sie vor etwa zwanzig Menschen das beste denkbare Konzert gespielt haben, am nächsten Morgen um 5 Uhr aufgestanden, nach sieben Stunden Heimfahrt schliesslich in Molinella angekommen sind: Da ging Katarina ein Schulhaus putzen und Sly hat dem Kind geschaut.

Wie Jazz das wirklich war, zeigt sich auch in der Reaktion des Turnhallepublikums, das, ausser eines herumwirbelnden original Psytrance-Jazzer in der ersten Reihe, eher verhalten staunte. Ganz anders im Konzert davor, Kid Be Kid aus Berlin machte ein tänzelndes Soloprogramm, das die Gelüste im Raum ins Schwingen brachte, Gelüste nach Virtuosität, Beatboxen und gleichzeitig über das Pianoforte fliegen, eine starke Frau sein und trotzdem niedlich sympathisch und für alle da, maximale Enthobenheit bei maximaler Relatability – und das Turnhallepublikum staunte ganz heilig. Es musste sich keinen Millimeter bewegen, so fest am Nerv getroffen, so narkotisiert. «Jazz is the big brother of revolution. Revolution follows it around», sagte einmal der Protopunk Miles Davis.