Käse statt Bühnenkunst

Aufgrund der Coronamassnahmen sind die traditionellen Theater geschlossen, erfreulicherweise dürfen aber einzelne alternativen Schauspielhäuser weiterhin ihren Betrieb führen. So entschliessen wir uns, einen kulturellen Abend im «Alpenland» – das übrigens wie die grösseren Institutionen auch von staatlichen Subventionen profitiert – zu erleben. Die Kurzchronik einer Kulturkonsumation von Gastautor Andrea Kaiser. 

Das Programm ist etwas unklar, aber aus der Tatsache, dass es wie eine Menükarte gestaltet ist, schliessen wir, dass Titus Andronicus von Shakespeare gegeben wird. Wir erinnern uns: Der voyeuristische Höhepunkt besteht darin, dass die gotische Königin Tamora für ihre Untaten bestraft wird, indem sie ahnungslos ihre in Pastete gebackenen Kinder isst. So finden wir uns am Kornhausplatz ein, das Schauspielhaus steht passenderweise vor dem eigentlichen Stadttheater. Bereits beim Anstehen bemerken wir, dass das Publikum durchmischt ist. In unserer dem Anlass entsprechenden Aufmachung fühlen wir uns überkleidet.

Das Stück beginnt. Das Podium ist als Tresen gestaltet, es handelt sich offenbar um eine zeitgemässe Neuinszenierung. Deshalb fällt es uns auch schwer, die Hauptfiguren auszumachen. Überhaupt hat die Bühnenausstattung etwas betont Rustikales, der Raum ist dekoriert mit Wintersportutensilien und flankiert von Matterhorngemälden – nach Rom sieht das nicht aus, eher scheint der Intendant einen Bezug zur gotthelfschen Schweiz herstellen zu wollen. Dieser Verdacht wird durch den Faktor erhärtet, dass einzelne Schauspielerinnen im Dirndl zwischen den Stuhlreihen kreuzen.

Zu unserer Verblüffung wird uns eine Speise an den Tisch gebracht. Sind wir Teil des Ensembles geworden? Offensichtlich handelt es sich hier um modernes Theater mit Zuschauerbeteiligung. «Essen wir das jetzt?», flüstert mich meine Begleitung an. «Essen wir!», wispere ich zurück und beäuge die um Tamoras Kinder Chiron und Demetrius angereicherte Pastete – sie dünkt mich etwas wässrig. Wir werden das Gefühl nicht los, uns im falschen Stück zu befinden. Der Verzehr der Nahrungsmittel scheint der Höhepunkt der Aufführung zu sein, an der Bühnentheke passiert nicht mehr viel. Die übrigen Zuschauer schwatzen ungeniert, nur wir gucken einander schweigend fragend an. Wir haben immer noch nicht herausgefunden, wer die Hauptfiguren sind. Einzelne Gäste begleichen die Eintrittsgebühr und verlassen das Theater. Gewagte Neuinterpretationen sind augenscheinlich nicht jedermanns Geschmack.

Uns beschleicht das ungewisse Gefühl, dass das Stück zu Ende ist, mehrere Zuschauer erheben sich bereits und begeben sich Richtung Ausgang. Etwas klingt an wie verhaltener Applaus, aber anstelle von stehenden Ovationen gibt es schreitende Profectiones. Und allseits orientalisches Aufstossen. 

Die Interpretation dieses Stücks ist gewiss modern ausgefallen. Das kann Denkanstösse liefern, läuft aber auch Gefahr, im Publikum Verwirrung zu stiften. Die Dialoge und Monologe waren grösstenteils unverständlich. Das Bühnenbild wirkte unübersichtlich, die Darstellung etwas hölzern und das inzwischen veraltete Konzept der Zuschauerbeteiligung lenkte vom eigentlichen Inhalt ab. Ein Novum für uns war, wie einsam und trostlos wir uns in dieser Darbietung fühlten. Trotz alledem ein gelungener Kulturabend; man muss ja offen sein für Neues.