Kapitalismuskritische Besinnlichkeit mit Tommy Vercetti

Sonntagabend, Tommy Vercetti performt einen Song auf der Dachstockbühne und vergisst seinen Text. Tommy hat ein Blackout. Ich habe auch ein Blackout, eines, das sich über Tage hinweg zieht, wegen Alkohol und Lohnarbeit und wegen Kapitalismus, Weihnachtsmärkten und Sonntagsverkäufen. Keine ruhige Minute lässt einem die Hölle der Vorweihnachtszeit, so dass der Feiertagszynismus bereits am 22. kickt und man sich zu fragen beginnt, wie man die Zeit bis Ende Jahr überhaupt überleben soll ohne komplett durchzudrehen, ohne Alkoholvergiftung oder Amphetaminüberdosis und ohne, dass sich die Depression nach dem Exzess durch die Rauhnächte und bis Mitte Januar zieht. Bis dahin aber fühlt sich jede Nacht an wie drei, oder drei Nächte fühlen sich an wie eine, je nach Substanz und je nach Modus, ausgedehnt oder komprimiert ist die Zeit in der allgemeinen Endjahresstimmung.

Irgendwann in dieser Vorweihnachtszeit hörte ich mir «No 3 Nächt bis Morn» von Tommy Vercetti an, auf den Kopfhörern im Zug zwischen Zürich und irgendeiner austauschbaren Ostschweizer Kleinstadt, einer Kleinstadt mit fünf Dorfbrunnen und zwei Metzgereien und keinem Autobahnanschluss, einer Kleinstadt in welcher ich meine Kopfhörer liegenliess, wo sie wohl noch immer liegen. Eine knappe Stunde lang hörte ich mir dieses Album an und liess mir von Tommy Vercetti den Kapitalismus erklären. «No 3 Nächt bis Morn» ist ein didaktisches Konzeptalbum und ein bisschen nervt mich das; schon wieder ein Typ gegen die Vierzig, der mir was erklären will und das Booklett zum Album ist zwar hübsch gestaltet, aber auf jeder Seite steht noch irgendein weiser Kalenderspruch irgendeines toten, wichtigen Typen: Brecht, Musil, Shakespeare, Marx, Huxley. Aber am Ende hat es mich dann doch wieder gecatcht und das sanfte, didaktische Pathos von Tommys Kapitalismuskritik liess die gute alte Wut gegen das Kapital, gegen die Umstände und die Ungleichheit und die Ungerechtigkeit wieder einmal neu aufflammen.

Und auch an diesem Sonntagabend im Dachstock, mitten im vorweihnachtlichen Blackout und im Feiertagszynismus hat es mich gecatcht und zwar nicht nur intellektuell, sondern auch emotional. Denn «No 3 Nächt bis Morn» ist nicht nur ein didaktisches, kapitalismuskritisches Konzeptalbum, sondern auch ein sensibles, poetisches Popalbum, sorgfältig getextet und ebenso sorgfältig komponiert und produziert von Pablo Nouvelle, der im ausverkauften Dachstock zusammen mit einer virtuosen Band dazu beitrug, dass die Show zum intimen Popkonzert wurde. Kapitalismuskritische Besinnlichkeit könnte man das nennen, was da an diesem Sonntagabend im Dachstock stattfand. Besinnlichkeit bis zum dritten Bier, bis zum vierten Shot, bis zur versöhnlichen Besinnungslosigkeit. So, dass man am Montagnachmittag gar nicht mehr jene verachten mag, die auf der Jagd nach den letzten Weihnachtsgeschenken die Innenstadt stürmen. Auch wenn es dieselben sind, die am Abend zuvor noch besinnlich und zustimmend zu Tommy Vercettis Kapitalismuskritik genickt haben. Schliesslich würde ich mich wohl auch aktiver am Kapitalismus beteiligen, wenn ich mehr Kapital und weniger Panikattacken beim Betreten kapitalistischer Institutionen hätte.