Die Schlacht ist verloren. Aber der Krieg? Wie der sprichwörtliche Hannibal den Alpaufzug mit 37 Mücken versuchte. Ein Gastbeitrag von Xaver Marthaler.
An einem der letzten Feste, die noch gefeiert wurden: Freitagabend, irgendwo im Steigerhubel, im Einfamilienelend zwischen Bahngleisen und Autobahnbrücke, ein grosses Haus, nicht schlecht, zweifachverglast; das Klientel junge Männer zwischen 18 und 24, Testosteron liegt greifbar in der Luft.
Späte Stunde, rauche Zigi draussen, irgendwie im Gespräch mit irgendwem – da johlt es durch den Garten, ein Typ kommt auf seinem Kiefer daherspaziert und dann, was auch sonst, Thema «Corona». Also: Vor allem spricht er und fragt mich noch für Zigi, er hört gar nicht mehr auf zu reden. Corona sei doch eigentlich ganz gut, zum Beispiel für das Klima. Der Typ sieht zu jung aus dafür, dass er schon mal einen Krieg erlebt hätte, aber trotzdem sagt er, dass das wirklich gut sei: dass die Schweizer*innen jetzt mal erfahren würden, wie es sei, in einem Kriegsgebiet zu leben.
Ich massregle ihn heftig, Schulmeisterart, was er eigentlich für ein Idiot sei und dass man das ja wohl nicht vergleichen könne – sicher hat das auch mit den unzähligen Bieren zu tun, die schon in mir drin und teilweise schon wieder aus mir draussen sind.
Nach dem Fest kommt der Abbruch des Alltags, der Beginn der grossen Leere, nichts geht mehr, alles ist schlimm und man wünscht sich, dass irgendwas wäre. Ist aber nicht. Das zu akzeptieren braucht Kraft. An einem Wochentagmorgen drehe ich meine Fahrradrunde um den Wohlensee und auf dem Rückweg – ich kreuze grad das stillgelegte Westside – halte ich es nicht mehr aus und fange an zu heulen. Man down. Ich schäme mich, auf dem Velo strampelnd im Selbstmitleid zu versinken und denke dann, mich selbst beruhigend, «halb so wild, die Leute werden denken, die Tränen kommen vom Fahrtwind in den Augen.» Das hilft. Und dann merke ich, dass die Überlegung obsolet ist, weils ja sowieso quasi keine Menschen mehr gibt draussen.
Später am Tag denke ich an den Typen zurück, denn jetzt bin ich in meinem kleinen Kriegsgebiet angekommen in meinem Zimmer irgendwo im Panopticon 3027. Kriegsgebiet vielleicht auch hier ein bisschen übertrieben, aber militärische Lingo bietet sich auf jeden Fall an. Ich hänge rum, langweile mich, was soll das alles. Ich starre verträumt-hilfesuchend meine Zimmerpflanzen an und da sehe ich sie plötzlich, sie im Plural – da sehe ich sie silbern auf der Erde glänzend: die Trauermücken.
Trauermücken, Familie der Zweiflügler: das sagt Wikipedia und weiter, dass die meine Zimmerpflanzen bald mal zerstören würden, wenn ich jetzt nicht sofort Massnahmen undsoweiter. Mittlerweile habe ich auch die anderen Pflanzen gecheckt, auch dort natürlich die kleinen Viecher und ich google und finde Hausmittel. Endlich passiert was. Als erstes mache ich mich an ihre Kinder, streue Kaffeesatz oben auf die Pflanzenerde, um die Larven zu töten. Die Säure soll fies sein zu den Dingern in der Erde beziehungsweise an der Wurzel der Pflanzen. Zudem natürlich Handarbeit: Jedes Mal, wenn ich eine dieser Mücken sehe heftiges Herumfuchteln in wildestem Jagdinstinkt, selten erfolgreich. Ich bin froh, haben die Lebensmittelläden noch offen.
Dann: Zündhölzer Kopf voran in die Erde, weil der Schwefel helfen soll. Das mögen Trauermücken nicht. Auch hier Fazit: Sie werden zwar weniger, aber sie sind noch da. In Ermangelung von bauundhobby und doit muss ich auf richtiges Gift verzichten und so bleibt mir nach Dirk von Lowtzow nur noch Kapitulation. Oder vielleicht vorübergehende Kapitulation: die Schlacht verlieren, den Krieg gewinnen. Ist es denn schlimm, solche Kleinkriege zu verlieren? Kriege haben viele verloren, zum Beispiel Hannibal. Man muss auch nicht gleich aus einer Mücke einen Elefanten machen, im Falle Hannibal jetzt eher umgekehrt. Die wären vielleicht auch nicht alle gestorben nach der Alpüberquerung, die 37 Mücken, weil die sind ziemlich robust, das weiss ich jetzt.
Und tief in mir drinnen freue ich mich jedes Mal, wenn mir in meinem Zimmer eine Trauermücke über den Weg fliegt, das Zimmer also zum Kriegsgebiet wird, denn das ist unberechenbar, das ist Gefahr und Ablenkung, das ist Ansporn und Aufgabe, das riecht nach Entscheidung, Leben und Tod. Irgendwie Sinn, summend, nervig, im Kleinen – innerlich bin ich wieder verbunden mit Hannibal und anderen schwer beladenen Bergsteigern: «Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.»