Kulturelle Ersatzhandlungen per Post

Ein Lob auf das diesjährige Auawirleben: Ein Gastbeitrag von Moritz Achermann.

In den kulturpolitischen Debatten rund um eine Corona-konforme Kultuproduktion und -konsumation ging in den letzten Wochen fast ausschliesslich um einen Begriff: das Streaming. Die Meinungen verteilen sich dabei auf der Achse «Streaming ist der Tod der Kunst» bis «Das Netz demokratisiert elitäre Kunstformen – mehr davon». Michael Stallknecht (über den wir anderer Stelle unbedingt mal reden müssen) beschowr in der NZZ mit reichlich bildungsbürgerlichem Pathos das Ritual des klassischen Konzertformats (nur ja nichts ändern!) während Nicolas Freund in der Süddeutschen Zeitung beziehungsweise im Bund die Radikaldigitalisierung der Kunst forderte. Ane Hebeisen liess sich im Tages-Anzeiger derweil genüsslich über den in Videos geäusserten Manifestationsdrang der Künstler*innen aus. Dabei blieb (und jetzt kommt der feuilletonistische Hammersatz) die inhaltlich-ästhetische Diskussion erstaunlich unterbelichtet. Denn ein Theatermittschnitt in der Totale eines Kamerarekorders, den jemand neben dem Lichtpult platziert hat, ist einfach nicht dasselbe wie eine professionell gedrehte und geschnittene Konzertaufnahme.

Die globale Kultur ist sowieso schon einige Schritte weiter. Der wilde Medienmix, den Travis Scotts Konzert vor Millionenpublikum im Game Fortnite präsentierte, ist ebenso irritierend wie faszinierend. Hier eröffnen sich völlig neue Räume zeitgenössischer Kulturpraxis.
Auf lokaler Ebene hat das Theaterfestival Auawirleben vorgemacht, wie kreativ und vielseitig künstlerische Ersatzhandlungen in pandemischen Zeiten sein können. Denn dieses famose und ursprünglich abgesagte Festival hat genau das getan, was Theater auszeichnet: die Suche nach neuen Formen. Aua comes your way, wie das zu abonnierende Ersatzprogramm hiess, erschien im beinahe schon nostalgischen Medium des Briefes.

Welche Aufregung. Jeden Tag mindestens ein Umschlag mit der Anweisung, an welchem Datum er zu öffnen sei. Die Inhalte wurden durch die Künstler*innen, die eigentlich hätten auftreten sollen, gestaltet. Und diese fielen wunderbar unterschiedlich aus, von der Glitzerattacke zur Eröffnung – Überbleibsel tauchen immer noch in meinem Zimmer auf – bis zum Nastuch in der letzten Sendung: Die spanische Truppe La Tristura schickte Videos auf USB-Sticks, der Este Mart Kangro schrieb einen berührenden Text über Kopräsenz und Vergessen im Theater (mit einem Apérol Spritz am Fenster zu lesen), die Iranerin Negar Rezvani ein erschütterndes Gedicht aus dem australischen Asyl-Limbo. Es kam ein Hering-Salat-Rezept einer in Italien angestellten ukrainischen Haushälterin, ein Bechdel-Test für die Brieftasche, Podcasts, zu deren situativen Hören man eingeladen wurde und etliche Kurzkonzerte (live und physisch!) der Mundart-Rock-Noir-Helden Irma Krebs.

Dieser undogmatische mediale Wirrwarr, die tägliche Überraschung, der Nervenkitzel beim Öffnen des Briefumschlags; ein aufregendes Vergnügen, das vor allem eins bewirkte: Lust auf mehr. Verstärkt durch die zeitlich beschränkte Zugänglichkeit vieler Angebote schaffte es dieses Aua, ein Gefühl zu erzeugen, das mir irgendwann im Lockdown abhanden gekommen zu sein schien: fear of missing out. Mal einen Brief zu spät geöffnet, schon ist die Möglichkeit verflossen, und wenn ich am Ende des Tages die Zoom-Sessions im virtuellen Festivalzentrum oder die digital aufbereiteten Produktionen ausliess, weil ich schlichtweg die Ästhetik kleiner Köpfe in Vierecken nicht mehr ertragen konnte, so hatte ich doch immerhin ein schlechtes Gewissen. Ebenso wie ich mich auf die nächste Aua-Ausgabe mit Kopräsenz von Performenden und Publikum freue, so habe ich dieses tägliche, postalische Menu Surprise der Distance-Theaterkunst ungemein genossen. Und für die Debatte: It’s not what you stream, it’s how you stream.