Aus dem Herzen des Berner Chorwesens: ein Gastbeitrag von Moritz Achermann.
Man könnte sagen, das Chorsingen gehört zum Genom der Berner*innen. Um die hundert Chöre existieren in der Stadt Bern, vom kleinen Singkreis bis zum grossen Konzertchor. Spötter könnten behaupten, die hiesige Chorszene bilde das perfekte Amalgam aus urschweizerischer Vereinstradition und bildungsbürgerlichem Habitus, doch das greift zu kurz. Chorsingen ist kreative Gemeinschaftsbetätigung, musikalischer Breitensport und nicht zuletzt Arbeitsbeschaffer unzähliger Profimusiker*innen, kurzum: eine höchst lebendige und vielseitige Kulturpraxis.
Darum ist es eigentlich erfreulich, wenn der Bund über das Chorsingen schreibt – auch wenn es nur ein weiterer Artikel nach dem Schema «Man kombiniere irgendeinen Teil des gesellschaftlichen Lebens mit Corona und schaue was da so geschieht» ist. Der Inhalt aber hat mich erstaunt: Statt der fehlenden Probemöglichkeiten und Akte des gemeinsamen Musizierens ging es nur um die finanziellen Probleme der Vereine und den Mitgliederschwund, Fazit: Das Berner Chorwesen ist wegen Corona in arger Gefahr. Um eine Stellungnahme gebeten wurden dabei nur die alteingesessenen Big Player der Szene, die jenes Klagelied schon seit Jahren anstimmen – kein Nachwuchs, teure Konzerttickets decken die Kosten für Lokalmieten, Orchester und Solist*innen nicht mehr. Statt Selbstkritik nur dieselben Klagen, die wir seit Jahren zu hören kriegen.
Wie man den Artikel nämlich auch hätte drehen können: Die Berner Konzertchor-Dinosaurier scheinen in Zeiten von Corona zu merken, dass sie schon lange aus der Zeit gefallen sind.
Wir sprechen von Chorvereinen, die es in den letzten zwanzig Jahren kaum ein einziges Mal geschafft haben, ein Werk einer Komponistin, eine grössere zeitgenössische Komposition oder etwas auch nur halbwegs programmatisch Wagemutiges aufzuführen und sich nicht zu schade sind für ihr oratorisches Geschrei achtzig Franken Eintritt zu verlangen, damit sich die Leute zum tausendsten Mal Mendelssohns «Elias» anhören müssen. Ein Blick in die letzten Programme des Bachchors oder des Berner Kammerchors zeigt ein ernüchterndes Bild. Gegeben wird das immer gleiche kanonisch verengte Repertoire aus der Feder europäischer Komponisten (selbstredend nur Männer) des 18. und 19. Jahrhunderts. Im immer gleichen Konzertrahmen vor dem immer gleichen vergreisten Publikum.
Das möchte ich jetzt weder als pietätlosen Corona-Flachwitz noch als sozialdarwinistische Allüre verstanden wissen, aber wenn es um die Berner Chorvereine geht, bin ich der Meinung: Lasst die Alten sterben und schafft Raum für Neues.
Denn das Chorwesen wird auch in der Bundesstadt überleben, dafür gibt es schlicht zu viele Singwütige. Ferner gibt es viele Chöre, die sich bereits jetzt durch originellere Programmgestaltung, neue Konzertformate und transdisziplinäre Projekte hervortun. Nur ist das bei jenen im kulturellen Habitus des langen 19. Jahrhunderts eingefrorenen grossen Oratorienchören, die sich selbst gerne als Eckpfeiler des hiesigen Chorwesens sehen, noch nicht angekommen. Ob jeder alteingesessene Chorverein noch an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen werden muss, könnte man sich ja schon mal fragen. Es herrscht generell ein Überangebot – was nun gefordert ist, sind innovative Programme, mutige Projekte und der Anspruch, etwas über die aufgeführten Kompositionen auszusagen, das über die tradierten Rezeptionsmuster hinausgeht. Künstlerisches Profil statt einer auf Publikumszahlen abzielenden Programmation (ein Grossteil der Zuhörer*innen besucht die Konzerte ohnehin aus sozialer Verpflichtung).
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das moderne Laien-Chorwesen im 19. Jahrhundert aufkam – just in jener Zeit, in der klassische Musik tatsächlich so etwas wie eine bürgerliche Breitenwirkung erzielte. Nur wurden damals – trotz des aufkommenden Historismus – vor allem neue Kompositionen gesungen und die Ensembles und Chorvereine blieben so der klingenden Gegenwart angebunden. Heisst: Die Gesellschaft entwickelt sich weiter. Und das sollten mittlerweile auch die traditionellen Kulturakteur*innen mitbekommen haben.