Liebe Genossinnen, liebe Genossen

Normalerweise geht das so: Am 1. Mai versammeln wir uns in der Kramgasse, revolutionärer und offizieller Block fein säuberlich getrennt. Vom Soundwagen läuft Keny Arkana und eine von Bläsern zugrunde gerichtete Bella-Ciao-Variation, die WOZ wird verteilt, der Funke und tausend Flugblätter; der 1. Mai ist analog. Wir gehen gemeinsam die paar Meter zum Bundesplatz, wo sich die kleinen Organisationen je zu zweit einen Stand teilen müssen und die grossen ihren eigenen haben, darauf noch mehr Flyer, Kleber und mancher Initiativbogen, Feuerzeuge, Pins, Süssigkeiten, Dosen für Kollekte, Kleidung mit schwarzen und roten Logos. Holzofenpizza, Bratwurst und ein bis zwei exotischere Angebote konkurrieren den traditionellen Risotto, für den die meisten Leute anstehen, weil es ihn umsonst gibt, sofern man den 1.-Mai-Bändel für acht Franken gekauft und ihn sich stolz auf das Herz geheftet hat. Zuhause wird man ihn an den Kühlschrank kleben, zu all den anderen der letzten Jahre. Wir essen zusammen, wir trinken Bier. Wir singen die Internationale.

Alle trotzen dem Regen. Alle sind gern da. Alle sind froh, wieder heimgehen zu dürfen.

Gewissermassen ist der 1. Mai in Bern der Safe Space der linken Szene, die gemeinsame, gemütliche Stube. Man hockt zusammen, hört einander zu, auch wenn es langweilig ist und stört sich nur ein wenig darüber, dass es regnet. Man freut sich, zusammen zu sein und kann sich vergewissern, dass alle noch da sind. Grundsätzlich kann man wohl sagen: Es ist gut, dass es Safe Spaces gibt, weil es wichtig ist, sich sicher zu fühlen, sich ausruhen zu können, Kraft zu schöpfen. Safer Spaces! – würden manche sowieso einwenden, denn hundert Prozent sicher ist es nirgends, auch dann und dort, wo man sich mit der Kuscheligkeit wirklich Mühe gibt und eine grosse bequeme Sofalandschaft erschaffen hat – auch da kann es sein, dass zwischen den Ritzen übriggebliebene Zigarettenstummel stecken oder ein Stück geschimmeltes Brot oder schlimmer noch, eine verirrte Glasscherbe möglicherweise.

Nun ist das eigentlich ein zentraler Punkt: Es liesse sich ja sagen, dann schütteln wir die Kissen auf und nehmen die Polstergruppen auseinander, saugen die Ritzen aus und machen sauber, ein für alle mal. Aber eben kommt wieder ein Fest und meist wird da geraucht und manchmal geht halt ein Glas kaputt.

Darum liesse sich umgekehrt auch sagen: Hundert Prozent sicher ist es nirgends, naja, dann ist das eben so. Ist das überhaupt unser Anspruch? Der Zigarettenstummel ist vielleicht eklig, aber leben kann man damit, und die Glasscherbe verletzt einen, wenn man dumm reingreift. Das ist zwar nicht gut, aber in den meisten Fällen auch nicht so schlimm. Und natürlich: Wenn es schlimm ist, dann machen wir was dagegen, oder versuchen es zumindest. Sich aber an jedem Staubkorn abzuarbeiten, verstellt den Blick – es lenkt uns ab von den grossen Ungerechtigkeiten, und es nimmt uns am Ende die Lust an der Sache. Die sterile, staublose Stube: Sie macht auch krank.

So lässt sich gerade im Safer Space erfahren, dass es vollständige Sicherheit nicht geben kann. Dass einem zudem nicht schlecht geraten ist, mit dem Dreck in den Ritzen umgehen zu lernen – weil er nun mal immer wieder kommt. Weil es, um die Metapher noch etwas ärger zu strapazieren, Sofas ohne Brösmel nur im Möbelhaus gibt und sich in dieser sterilen Umgebung niemand wirklich wohl fühlen kann. Manchmal ist es auch einfach interessant zu schauen, was sich in den Ritzen überhaupt so alles herumtut.

Draussen dann ist es erst recht nie sicher und meistens wenig kuschlig. Es hat Glasscherben überall und Dreck und Blut, und das kriegen wir nicht einfach weg, auch wenn wir es wollen. Im besten Fall ist das interessant und im schlechtesten macht es einen kaputt. Meistens allerdings ist es einfach anstrengend. Die Menschen sind anstrengend, man selber ja sowieso auch. Und das ist eigentlich in Ordnung so.

Es mag banal klingen: Die Tatsache, dass Menschen verschieden sind. Die Theoretikerin Christina Thürmer-Rohr, 83-jährig, vermutet darin aber eines der grössten Geheimnisse überhaupt. Pluralität, sagt sie, ist nicht einfach gegeben, sondern eine enorme Herausforderung. Pluralität ist nichts, was einfach ideell bejaht werden könne und mache einem das Leben auch nicht einfach nett, freundlich und vielseitig; Sie bringe zwingend Kontroversen mit sich. Daran sollten wir denken, wenn wir uns unseren Weg durch die Welt bahnen: Die Auseinandersetzung mit anderen Menschen ist in ihrer Anlage immer kompliziert, bringt Widersprüche mit sich, die man oft nicht auflösen kann und auch nicht unbedingt muss. Dieser Anspruch würde sowieso voraussetzen, dass man irgendwie rein sein könnte, sauber und hehr, der Wahrheit im Schoss. «Aber», das sagt auch Thürmer-Rohr: «das Leben ist dreckig – und es macht dreckig. Wir können unser Leben nicht auf einer sauberen Schiene verbringen. Wenn man das will, dann kann man nicht zu einem Menschen werden, der dieses Leben in seiner unglaublichen Widersprüchlichkeit zu verstehen beginnt.» Darum ist es auch feige, sich nur noch in Kleinstgruppen zurückzuziehen und gemeinsam zu masturbieren (auch wenn das durchaus etwas sehr Schönes sein kann). Oder sagen wir zumindest: Es ist langweilig. Wenn der Rückzug zur Ideologie wird, fallen wir aus der Welt.

Der 1. Mai in Bern ist kein Kampftag, er ist ein Gang zur Kirche, ein sonntägliches Kaffeekränzchen, ein politisch korrekter Stammtisch. Das ist der 1. Mai in Bern: Ein gutes Beispiel dafür, dass Stillstand langweilig ist und Einigkeit wahrscheinlich auch. Ein Beispiel dafür auch, dass beides einen Tag lang wohltuend und wichtig sein kann. Der Safer Space und damit der Berner 1. Mai soll Rückzugsort sein, Ort der Sammlung vielleicht und der Vergewisserung, es soll ihn geben, wenn Leute ihn brauchen – die Erwartung aber, das Gefühl der Widerspruchslosigkeit könnte beliebig ausgedehnt werden, muss immer enttäuscht werden.

Es ist darum auch nicht so schlimm, dass der 1. Mai in Bern kein Kampftag ist. Man braucht sie ja, all die Köpfe, die man sonst nie sieht, die gemütliche Tradition, die wohltuende Langeweile, den Risottoklumpen und das Dosenbier – und es schmerzt, dieses Jahr aussetzen zu müssen. Dafür bricht nächstes Jahr an einem der Festtische ja sogar ein Streit aus.