Lieber blaue Augen, lieber nicht heiraten

Ohne das Meer leben oder ohne einen Ehemann? Ersteres wäre niemals auszuhalten. Aber ein Leben nur mit den Freundinnen und in einem Haus, gemeinsam, das wäre gut.

Am Sonntagabend findet sich im Foyer der Dampfzentrale eine gute Handvoll Menschen ein: Unplush lädt zur Filmvorführung. «Les Promises», eigentlich auch ein Projekt, dem Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, man merkt es jetzt bloss nicht mehr. Denn dieser Film, der weit über diesen Abend in der Dampfzentrale hinaus schwingt, ist kein Ersatzprodukt, sondern ein einigermassen unscheinbares Schmuckstück, leicht und beschwingt, dicht und ernsthaft zugleich. Amira Njahi, Rachel Houmadi, Fatima Khadissova, Ilhem Mechentel, Minane Ould Ibbat und Djenna Sekarna, sechs junge Frauen aus dem 15. und dem 16. Arrondissement in Marseille, ärmere, migrantische Viertel, haben die letzten zwei Jahre an diesem Projekt gearbeitet. Theater und Tanz in den Marseiller Banlieues, die Aufführungen immer wieder abgesagt – also haben sie sich, zusammen mit Regisseurin Marion Zurbach, für eine Filmproduktion entschieden.

«Les Promises» setzt im Leben der jungen Frauen an, da wo sie sind und sich bewegen, im eigenen Schlafzimmer, auf der Strasse, in Insta- und Snapvideos, sie stellen sich Sachen vor und sich selbst in dieser Welt. Manchmal erzählen sie sehr direkt davon, was sie beschäftigt; lieber blaue Augen haben zu wollen zum Beispiel oder eben lieber nicht heiraten; oder wie es sich neben welchem Plüschtier im Bett schläft. Dann wieder inszenieren sie sich, lustvoll und verschmitzt, drehen Schminktutorials und Tanzvideos oder kehren die Rollen um, indem sie einem verunsicherten Mann (der nie ins Bild kommt) an einem imaginären Date erklären, dass er scheisse aussehe, auf jeden Fall nicht so gut wie auf den Fotos, dass er zu dick sei. Sie erfinden Geschichten und entdecken ihre Rollen darin, lassen das Publikum an ihrem ganz eigenen Blick auf die Welt teilhaben. Filmregisseurin Giulia Angrisani folgt ihnen mit ruhiger Hand, scheut sich aber auch nicht, mit der Sprache eines Videoclips zu arbeiten, so dass diese sechs Frauen einmal vorsichtig und verspielt wirken, dann wieder stark und glamourös.

«Les Promises» ist eine Schnipselsammlung aus Übungen und fertigen Szenen, zwischen Dokumentation und Spielfilm. Erfrischend, wie hier kaum auf Hintergründe, Hindernisse oder Herkünfte eingegangen wird; vielmehr wird diesen jungen Frauen ein Raum gelassen – ihn sich so zu gestalten, wie sie es hier und jetzt wollen. Dass keine der Schauspielerinnen einen biofranzösischen Namen trägt und die meisten von ihnen nicht weiss sind, mag mitschwingen – vielmehr wird hier von einer Realität ausgegangen, die nun mal einfach so ist.

Marion Zurbach hat das Kunststück hingekriegt, alle gleichermassen glänzen zu lassen, für sich selbst und in der Gruppe, die Stilleren und die Lauteren ebenso. Da lässt sich keine Hierarchie erkennen, weil sie die Jugendlichen das machen lässt, was sie gut können. Wer singen kann, soll singen; wer tanzen kann, soll tanzen. Zurbach nimmt sie alle so ernst wie nur irgend möglich, es wäre unvorstellbar, es ihr nicht gleich zu tun.

«Les Promises» feierte seine Premiere in der Dampfzentrale. Könnte gut sein, sagt Marion Zurbach, dass der Film dieses Jahr in einem anderen Rahmen nach Bern zurückkehrt.

Bilder: Still aus dem Trailer / Maïa Izzo-Foulquier.