Lindenholz im Winter

Aufschreibungen zur neuen Siedlung an der Brunnadernstrasse.

Bevor man es nicht mit eigenen Augen einmal besehen hat, oder? Du bist Architekturstudent gewesen und ich mache den Journalist, mit dem Notizblock in der Hand gehen wir der Sache einmal auf den Grund, denn auf innere Schönheit kommt es vielleicht zu liegen und wir beide wissen, wie instabil sind Stil und Geschmack; Winde werden Fürze, Fürze werden Sand, aus Sand werden Burgen – dann stehen wir da im Halbregen. Vor uns, halbhoch, die Überbauung auf dem ehemaligen Tramdepot-Areal im Burgernziel. Es sind instantane kleine Depressionen, kennst du dieses Lachen, wir pressen es aus: ha, ach! Du – Scheisse. Anderen ist der Humor aber gar nicht abhanden gekommen in der geplanten Quartierbelebung, neinnein. Die Belebung ist so weit bereits fortgeschritten, dass die Migros-Genossenschaft im Erd- und Geschäftsgeschoss ihren Supermarkt in Betrieb nehmen konnte. «Ändlech es Migros» stehts an die Wand geschrieben, die aus porösem Stein gearbeitete Hausmauer saugt die Sprühfarbe gern auf, als freute sie sie. Findest du auch, wer so treffend ist, sollte sich verewigen dürfen? Auch für Schmierereien gilt: Qualität und Quantität, viel hilft, aber geil ist geil, der Rest rechnet sich schon von selber aus. Du kannst entweder achttausend Zeichen schreiben oder siebzehn inkl Leerzeichen, am Ende hast du vielleicht dasselbe gedacht. Du kannst auch mit einem Feuerlöscher schreiben aber es ist nicht leicht. Einfacher zB Gedanken aushauchen wie: Auf die Traufhöhe kommt es hier an, hinten drei, stadtauswärts erstmal vier, dann fünf Etagen, gegen die Thunstrasse aufgebaut, eine Rhythmik immerhin als Bezug zur Aussenwelt, sie «reagiert differenziert auf die unterschiedlichen Bedingungen der Umgebung», ein Kommunikationsangebot, das wir annehmen müssen. Es ist deshalb davon auszugehen, dass der für diese Auseinandersetzung mit einer Architektur gefasste Beschluss, keine Absätze mehr zu machen, am liebsten würdest du ebenfalls die Kommas abschaffen und alle Struktur gegen den Wind schiessen, dass das direkt etwas mit dieser Trauflinie zu tun haben könnte, als körperliche Reaktion. Unser Werkzeug Sprache, wir begegnen den Wörtern zB Überbauung und stellen fest, es wurde über etwas drüber gebaut, es liegt was drunter, Boden, darin verborgen vielleicht noch etwas wie Schmerz. Damit ist zu rechnen. Wir begegnen dem Wort Verdichtung. Du sagst, ist es nicht sehr leer, das Wort Verdichtung ist doch nichts als eine Zahl. Du sagst weiter: wie Body Mass Index und wieder dieses Lachen, eigentlich ist es ein Husten. Wir begegnen dem Wort Öffentlichkeit, und stellen fest, auch hier nur eine Öffnungszeit. Wir begegnen dem Wort Lärmschutzwand erst später. Den Komplex ein paar mal umkreist wie müde Katzen. Über die viergeschossige Länge der Siedlung öffnen sich drei Höfe zur Staufferstrasse hin, gebildet von vier dreigeschossigen Fingern einer Hand, die nach der Elfenau greift. Ich frage dich: Was will uns dieses Building sagen? Was ist sein schmallippiges Versprechen? Du sagst: Vielleicht ist das eine moderne Frage, die nach dem Versprechen, die Enttäuschung lauert ein paar Jahre später, wenn der Sichtbeton seinen Betonkrebs nicht loswird. Vielleicht hat das kotzbraune Ding hier einfach fast nichts versprochen. Und dafür alles eingelöst. Oder noch schlimmer: alles versprochen und alles eingelöst. Und dann klingelst du einfach irgendwo, eine Stimme sagt «ich komme», die Tür ins Treppenhaus blökt, lässt sich aufstossen. Wir treten ein und hören dieselbe Stimme «wer ist da?» – «keine Sorge, wir haben nur den Schlüssel vergessen.» Lügen nehmen den Lift. Im dritten Obergeschoss gehört zur Stimme das skeptische Gesicht einer Frau. Wir werden geständig: ich Journalist oder manchmal, du Architekt oder fast geworden, ja wir seien sehr interessiert oder traurig, darüber, was hier verschwunden ist, «das Gefühl, wenn dir das Haus wegenommen wird – was heisst genommen: es wird weggekratzt von der asphaltierten Erdoberfläche, die dein kleines Stück Stadt war, ein Bagger kratzt das weg», das hat wenig mit Besitz zu tun, mit Besessenheit vielleicht mehr. Wir kamen daher, um uns über den Ersatz zu erkunden. Wieso ist es im Treppenhaus so still? Die Frau öffnet das Fenster und ein Tram ist zu hören, das freut uns, dass das Fenster aufgeht, ein wenig Beklemmung fällt ab, das Tram, wie es hält und ein paar Menschen freilässt. Als es wieder anfährt, schliesst die Frau den Flügel zu, mindestens Panzerglas muss das sein, was dieses Tram jetzt akustisch wegretuschiert, aber es schwebt noch fort, sagst du, durch deine geschliffene Architektenbrille sichtig, «man hört es dennoch, am Morgen manchmal», sagt sie. Wohnen an der Autobahn, das war doch eine Freude für die ganze Familie in den Fünfzigern, und wie sich der Fortschritt heute wendet, begehen wir die not so roaring Zwanzigerjahre des eindundzwanzigsten Jahrhunderts mit Wohnungen in der Lärmschutzwand. Der stillste Ort ist die verwirklichte Utopie. Es ist lieb, wie die Frau uns alles erklärt, etwa die hohe Biodiversität auf dem Dach etwa der stimmige Mieter:innenmix etwa wie man einer Genossenschaft vorsteht. Die Farbe der unglasierten Keramikfassade heisst: Lindenholz im Winter. Und du stellst die Preisfrage im Stil eines guterzogenen Muttersohns «was kostet Ihre Wohnung, wenn ich fragen darf?», wir kassieren nur die eiserne Stille der Strassenbahn. Dass man in der Schweiz nicht gerne über Geld redet, dafür kann die Frau nichts. Was sie an Miete zahlt, so genau ist es nicht überliefert, sie hat es irgendwie vergessen oder es ist nicht ganz klar. Wir verabschieden uns freundlich, «aber nehmt jetzt die Treppe, den Lift zu brauchen in eurem Alter, das ist unökologisch», gibt die Frau uns hinterher mit Recht. «Und ihr geht jetzt auch wirklich, oder?» so hallts zuletzt, ja klar, wir stolpern zurück auf die wahrscheinlich lauteste Strasse der erschlossenen Welt: ich muss mir die Ohren zuhalten, du springst fast in ein Begrünungs-Element aus Thuja (Lebensbaum), das leider noch nicht aus der Fantasie der Gartengestaltungsfirma ganz erwachsen ist, also landest du im Kies, als ein weiteres, mit zwei starken Hengsten bespanntes Rösslitram aus dem neunzehnten Jahrhundert um die Ecke donnert. Ein Blick zurück: nie mehr wieder Brunnadern.

Dieser Text erschien zuerst in der Februarausgabe des KSB-Kulturmagazins.