Die falsche Idee im falschen Moment

Oder: Die Bedrohung eines fragilen Ökosystems. Roland Fischer fragte nach Relevanz und Zeitgemässigkeit einer Stadtgalerie, Marlene Wenger antwortet: eine Replik.

Ein funktionierendes Ökosystem ist ein Biotop von verschiedensten Organismen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, die alle in gegenseitiger Abhängigkeit zueinander stehen. Nur, wenn alle ihre Rolle übernehmen, kann das Fortbestehen des Ökosystems gewährleistet werden und bestenfalls florieren. Genauso ein Ökosystem ist die Kultur. Drohen Kernelemente daraus wegzubrechen, hat dies kurz- und langfristig weitreichende Folgen für alle Akteurinnen.

Die Stadtgalerie ist ein solches Kernelement des Ökosystems «Berner Kulturszene». Was die Stadtgalerie als erster Ausstellungs- und Experimentierort für einzelne Künstlerinnen und Kuratorinnen geleistet hat, ist immens. Sie fördert als Ort nicht nur das Kunstschaffen in Bern und Umgebung, sondern bietet mit dem hauseigenen Residency-Programm und in Zusammenarbeit mit Pro Helvetia auch internationalen Gästen die Möglichkeit, sich punktuell zu verorten und zu vernetzen. Als historisch gewachsene Gedächtnisinstitution trägt sie ein Stück der Berner Kunstgeschichte in ihren Archiven und den Erinnerungen aller Beteiligten mit sich. Vor allem ist die Stadtgalerie bis heute ein Fixpunkt der Berner Kunstszene und keinesfalls aus der Zeit gefallen. Nebst der Kunsthalle ist sie einer der wenigen Orte in Bern, an denen eine kritische Masse von Menschen regelmässig zusammenkommt, die sich explizit dem Kunstschaffen der Gegenwart verschrieben hat.

Eine Schliessung würde dem oft aus Kleingruppen und Einzelkämpferinnen bestehenden Feld der Gegenwartskunst diesen wichtigen Ausstellungsort und Treffpunkt nehmen. Zudem würde einer der wichtigsten Orte zur künstlerischen und kuratorischen Nachwuchsförderung wegfallen. Diese Aufgabe alleine den Off-Spaces zu überlassen, ist in einer Stadt mit einer Kunsthochschule und einer städtischen Kunstsammlung nicht zu verantworten. Die städtische Förderung des Nachwuchses sollte – wie dies beispielsweise im Helmhaus in Zürich oder Klingental in Basel der Fall ist – selbstverständlich sein.

Eine Diskussion über die gerechte Verteilung der Mittel unter den einzelnen Akteurinnen des Ökosystems ist angebracht und wichtig. Da hier aber von der Streichung einer ganzen Institution die Rede ist, werden diese Mittel eben gestrichen und niemand anderes wird davon profitieren. Zudem ist das Argument, die Gelder würden mit dem Betreiben einer Stadtgalerie nicht direkt den Künstlerinnen zugutekommen und in der Schwerfälligkeit einer Institution verschwinden, absurd: Was ist direkter als die Übernahme von Produktionskosten für Ausstellungen junger Kunstschaffende? Die Nutzung der vorhandenen und durch diverse Investitionen massiv aufgewerteten Ausstellungsräume der Stadtgalerie ist effizient und sinnträchtig für alle Beteiligten. Bei einer direkten Vergabe der Mittel an Kunstschaffende müssten diese Infrastrukturen erst einmal überhaupt geschaffen werden.

Der Zeitpunkt für diese Sparmassnamen ist nicht nur ungünstig – er ist brutal. Die Schliessung einer ganzen Institution in einem Jahr, das die Kunst- und Kulturszene hart trifft und traf, in dem Menschen nach wie vor nicht oder nur bedingt wieder arbeiten können und die Planungsunsicherheit wie ein unheilvoller Schleier über den nächsten Monaten liegt, ist eine verräterische Geste. Die Art und Weise, wie die Sparmassnahmen von der Stadt kommuniziert wurden, nämlich ohne etwa das Gespräch mit den Beteiligten zu suchen oder die Kommissionen zu informieren, verstärkt die Enttäuschung. Die Frage, ob es die Stadtgalerie braucht, darf man sehr wohl diskutieren. Doch die Schliessung der Stadtgalerie als praktische Sparmassnahme hat nichts mit einer fairen Diskussionskultur zu tun. Es ist ein feiger und perfider Gewaltakt gegen die Berner Kulturszene.

Bildrecht bei Miriam Sturzenegger, aus der Ausstellung: «RENOVIEREN RENOVATING», 2015, Stadtgalerie Bern.