Mongo Matter

Es ist scheissheiss, fünfundvierzig Grad o. fünfundfünzig, dumme Tauben vergessen sich auf dem Asphalt, verglühen rasch, bleiben tot liegen.

Stell dir vor: Tontauben u. niemand schiesst. Niemand wagt sich nach draussen. Ich könnte die genaue Tem­peratur nachlesen in der Zeitung, die nicht ausgetragen wird, am Bildschirm, der kein Bild aufschlagen will, weil im Innern der Maschine irgendetwas geschmolzen ist. Dem Pfarrer ist es zu verdanken, dass ich immerhin meine Kammer behalten kann, die Stube hier unter dem Dach, die Sonne oben ohne Erbarmen. Bis auf weiteres.

Die Kammer ist sparsam eingerichtet. Es gibt ein Bett mit einer harten Matratze, einen leeren Wandschrank, ein Batterieradio mit Kassettenfunktion, weder Empfang n. Kassetten, vor dem kleinen Fenster ein Holzpult, an dem ich sitze u. durch das staubige Glas auf die stillgelegte kleine Stadt starre. Die Stadt zittert in der Hitze. Nach der ersten Zeile verschwinden die Häuser in einer Erdfalte, aus der nur zwei Türme abstehen: die Kirche der Stadt, vielleicht zweihundert Meter in den gelben Himmel hineingebaut. Das Spital hoch aus Beton, von seinem Inneren weiss ich nichts, es ist vermutlich sehr hell u. voll von Hitzeleichen.

Ich habe schnell begriffen, dass es sich um eine kleine Stadt handelt. Alles aus dem gleichen grünen Stein gebaut. Hier leben vielleicht etwas über hundertfünfzigtausend Menschen u. wahrscheinlich mehr als sechstausend Hunde, die seit Tagen mit dem Bellen aufgehört haben. Der Boden ist aus Pflasterstein, der Himmel ist weit, weil die Häuser dazwischen nicht recht hoch sind. Die Kirche ist protestantisch u. ihr Turm ein Eiszapfen. Dann der Fluss: ausgetrocknet, das staubige Flussbett umschlingt die Stadt wie ein Galgenstrick, der nicht ganz zugebunden wurde – aus Erbarmen o. Nachlässigkeit.

Im Takt von vier Tagen beisse ich mir die wachsigen Fingernägel ab, schnellen wie gedüngt aus den Fingerspitzen heraus in der Hitze, achtmal jetzt: dh. zweiunddreissig Tage dh. es müsste Anfang Mai sein. Bewahre die abgekauten Nägel in einem Trinkglas auf, nenne das Glas meine Hornuhr. In der Stadt unten in der Senke manchmal dumpf Sirenengeläut von den Fahrzeugen. Ich habe zuerst ein paar Tage lang über das Haus gegenüber hinweggeschaut. Bis gestern Abend – da ist etwas Bemerkenswertes passiert: Ich habe einen Schatten gesehen, unten auf der glühenden Strasse: wie sich eine Tür auftat, der Schatten aus dem Haus glitt, zielstrebig den kochenden Asphalt überflog, wo eine Taube seitlich totgebraten lag u. wie der Schatten dann die tote Taube auseinandernahm, ihr Innerstes ausgesaugt, ganz kurz befriedigt wartete, sich schüttelte, den Rest nach oben gebracht hat, in die erste Etage zurück ins Haus.

Es ist schrecklich still, wie alles flimmert. Ich frage mich: Kocht mein Blut o. zittern meine Augen, wackeln die Wände, weil der Boden flüssig wird? U. die Hausdächer leuchten, der Himmel über ihnen ist gelb, Gas. Taubenzählen: vier heute. Zu gerne würde ich das Fenster aufreissen, den Geruch von Verbranntem einschnaufen, aber es ist zu gefährlich, die Fenster zu öffnen. Mein Pfarrer sagt, er habe noch Dosen für ca. neunundvierzig Tage heisst zwölfeinviertel Fingernägel. Später wieder den Pfarrer auf der Treppe getroffen mit einer neuen Falte auf der Stirn: «Die Alten sterben weg. Nichts auszurichten.» Sie holten die unglücklichen Alten zwar in Schutzanzügen von ihren schönen Diwans u. Chaiselongues, aus ihren Zimmern, von langen Leben überstellten Kunstkammern, in denen sie bis zuletzt verharrten, brächten sie ins Spital, «aber es bringt nichts», sterben sie dann.

Um mir die Zeit zu verjagen, Vermutungen, was die Menschen der kleinen Stadt tun, für den selben Zweck, das Vertreiben von Zeit / Wahn / Hitze u. was es zu tun gibt: Dosenzählen, Taubenzählen. Ganz nackt sein, weil die Unterwäsche zu sehr wärmt u. sich dann die Haut abkratzen wollen, weil sie zu sehr wärmt. Fingernägel lösen sich wie von selbst. Trockene Hände, trockenes Zahnfleisch u. vernarbte Kopfhaut. Hunde in den Keller bringen. Beten, sich dabei schämen. Schreiben, Singen etc. Männer, die Frauen schlagen. Frauen, die Kinder schlagen. Kinder, die Tiere schlagen. Tiere, die Schatten schlagen. Übelkeit. Im Himmel flimmern Dinge auf u. aus Blei wird Marmor, darin schwimmen fluoriszierende Schwaden, fahren weg. Wie Rauch … Die Stadt hinter dem Haus gegenüber scheint gefroren in der Hitze, mit jedem Tag weiter entfernt, als würde ich sie durch das Fenster anstarren durch ein verkehrtes Fernglas. Hinter der Stadt kein Berg, neben der Stadt keine andere Stadt u. darüber fahrendes, glühendes Marmorgas, darin die beiden Türme gewunden u. umherfliegende Partikel vielleicht von toten Wesen? Die Nacht ist so heiss wie der Tag, hell, das gasige Gelb dann blutorange. Der Kirchenturm ragt davor wie mit Pech übergossen, im Spital flimmern grünlich Lichter.

In die Nacht hinein: Hörte ich plötzlich eine Trompete o. ein Flügelhorn blasen, sie machte eine langsame Melodie in die Luft, in langen, dumpfen Tönen. Hockte ich schnell von meiner feuchten Matratze auf, stand auf die Beine, schob mich vors geschlossene Fenster, presste mein rechtes Ohr ans warme Glas. Gegenüber in der Laube der ersten Etage: ein neuer Schatten, wie er das Horn bliess u. wie dabei die Zeit verstrichen ist, unmöglich zu sagen. Ob der Schatten sich nicht die Lippen verbrannt haben müsste am heissen Blech, aber die Töne kamen klar. Nach einer Weile, als die Melodie schon in mehreren Wiederholungen gespielt war, öffnete sich unverhofft ein Fenster im dritten Stock. Daraus kam ein zweiter Schatten u. kamen Schattenhände hervor, die Hände warfen einen schweren Stein auf die Strasse, der Stein flog vier Etagen tief, er war ca. von der Grösse eines Kalbskopfs. U. ein zweiter. U. ein dritter, alle zu Boden u. kein Krachen / Donnern nur Trompete. Ich will meinem Pfarrer von der nächtlichen Musik u. den abstürzenden Steinen erzählen, ihn weiter zu den Dingen befragen: was es mit dem Haus gegenüber auf sich hat u. den Schattenfiguren. Ich werde heute Abend die Treppe hinuntersteigen, ihn aufsuchen u. wenn wir Glück haben, ist noch Wein o. ein Kanister im Keller.

Haben wir uns besoffen, der Alte u. ich. Warmen Wein aufgemischt mit Kerosin, in der Stube des Pfarrers: eben die ganze überstellte Traurigkeit vom Alter. Irgendwer wird die vergilbten Berge von Papier / Heften / Büchern etc. einmal entsorgen müssen u. sich nicht daran freuen. Aber es war lieb beim Pfaffen unten. Feuchte Augen wohlig. Wie wir einander fast nackt gegenüber sassen, die Schweisstropfen sich verfangen haben in den dicken u. weissen Brusthaaren des Alten. Der geschärfte Wein wurde ganz leergetrunken. Das Kerosin rieb den Rachen auf, stank, aber machte schnell wieder weich / leicht u. vor allem vergessen.

Was der Pfarrer weiter zu erzählen hatte mit seiner schleifenden Stimme ist leider darin vertrunken. Ich werde nachhaken müssen – glaube, wir haben uns noch umarmt u. wie ohnmächtig gegenseitig einer Art von Liebe versichert. Ja dann habe ich recht lange in den Schüttstein des armen Pfaffen erbrochen, Dosenfleisch u. Kerosin u. Wein, dampfte schön, die lauwarme
Kotze in der dicken Luft.

Am Morgen ist der Himmel anders, mehr Bewegung u. von seltsamen Wüchsen: Schwaden aufgetürmt zu einer grossen Autowaschmaschine mit schaufelnden Schwammrollen. Die Schwaden gegen seifig / flüssig u. spritzen auf. Ein neues Gelb kippt ins Braun – alles ist gleichzeitig bewegt, im Ganzen am Pflügen, an den äusseren Rändern der gröberen Strukturen zitternd u. in sich am Brodeln. Fallen die Flugzeuge vom Himmel wie die gebratenen Tauben. Versinken ganze Häuserzeilen im suppigen Asphalt. Heruntergestiegen zum Pfarrer, um nach dem seltsamen Himmel zu fragen. Mehrmals angeklopft: lag er da bleich u. tot in seinem Ledersessel – hats ihn genommen, ganz still, ist er verdampft. Sofort hab ich die Wohnung durchwühlt nach Hinweisen evtl. Telefonnummern oä. Man möge ihm ein nettes Begräbnis ausrichten, aber wer / wie? Es ist unvorstellbar, dass irgendjemand ausführlich beerdigt wird in diesen Zeiten: Bei Meldung kommt das Fahrzeug mit den Schutzanzügen, die holen ab, was übrig ist. Auch: Wer redet denn noch schön, wenn der Pfarrer gestorben ist? Zwischen Kram / Tand / Devotionalien / Findlingen / Schätzen scheints: Der Alte war sehr einsam für einen Pfarrer von Beruf. Keine Spur von Gemeinde o. Familie – u. der Eiszapfenkirchturm im Himmel hinten stand ganz gleich da wie gestern, macht keinen Trauerwank. Werde den Alten wohl selber verabschieden müssen.

«Lieber Pfaff, verdampfter: Ein kurioses Missverständnis mit der Zeit hat mich zu dir gebracht. Für das Kämmerlein u. die Art Wärme, die man sogar in der grössten Hitze zu benötigen scheint u. das Teilen der Vorräte vom Kerosin u. Dosenfleisch danke ich sehr, nicht weiter ausführlich. Bist für immer in meinen Erinnerungen u. machs gut u. wir sehen uns dann.»

Gegen Abend, da der leise Temperaturunterschied es möglich machte, habe ich den lieben Mann die letzte Treppe bis zur Haustür hinuntergeschleift. Davor hab ich ihm noch eine schöne Bundfaltenhose angelegt, kein Hemd, keine Schuhe. Ich habe die mit Brettern verriegelte Tür aufgeschrissen, sodass es mir fast selber den Herz- u. Lungenapparat abgestellt hätte, bachnass / sturm / geblendet im gelben Feuerlicht das Väterlein hinausgeschoben wie in einen Steinofen.

In der Nacht hatte das Wetter gewechselt. Schreie in den feuchtwarmen Wind u. kein Knochen in der leergefegten Gasse vor dem verfluchten Haus gegenüber, hallte es laut u. klar zwischen den Mauern, ich: rauf u. runter, rennend auf den mürben Knien, verlottert vom ewigen Herumliegen u. jetzt wie ein Hund im Trieb gefangen / frei, alle Kraft musste ich vergeuden u. rausschleudern aus meinem trockenen Maul. Hat es mich direkt zusammengefaltet in der Strassenmitte, bin zuerst auf die Knie gesackt – da blitzte mir der arme Pfarrer auf im Kopf: konnte ich endlich erst heulen um den Alten u. fast das Herz erbrechen –

Auszug aus der Schubladennovelle «Mongo Matter». Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Oktoberausgabe des KSB Kulturmagazins.