Mutter Spaghetti → Pho

Phở ist ein Mysterium. Es fällt schwer zu verstehen, wie eine eigentlich so einfache Suppe so geborgen machen kann und so sicher, wie sie einen aufheizt von tief innendrin, auch wenn es draussen ohnehin heiss ist und man bachnass an den Esstisch fällt. So einfach: nur Rindsbouillon, feine runde Reisnudeln, Fleischeinlage oder auch Tofu; Zwiebeln, etwas Thaibasilikum oder Minze. In der südlichen Metropole Saigon kommen Mungosprossen, Chili- oder Hoisin-Sauce dazu, die Brühe ist stärker und süsser. (In Hanoi, wo die Suppe ursprünglich herkommt, ist das den Purist*innen zu blumig.)

An einem Frühlingstag im ersten Lockdown, dessen Nachmittagshitze den später so kalten Abend noch kaum erahnen liess, sind wir einmal mit dem Velo nach Biel gefahren, sind müde angekommen, heiss und hungrig. Beim Eindunkeln und Abkalten sassen wir in einem bunt überwachsenen Garten, tranken Wein in Wassergläsern. Es gab Phở aus Kartonschüsseln aus dem Gärbi, dafür kann man die Strecke schon einmal auf sich nehmen.

Donnerstag ist Phở-Tag im Gärbi, seit fünf Jahren machen Jonas und Dino das nun, und was normalerweise ein dampfender Abend mit vielen rotleuchtend-glücklichen Gesichtern, ist im ersten Lockdown wie auch heute, wo es wieder kalt ist, maximal reduziert – auf die Suppe. Immerhin. Es mag seltsam anmuten, dass sie die Phở hier auch vegan anbieten, wo doch die Brühe so sehr das Herz dieses Gerichts ist. Nicht umsonst sprachen die Menschen in Hanoi, als es während des Vietnamkriegs kaum mehr Fleisch zu essen gab und so auch die Phở ohne Rindseinlage auskommen musste, von phở không người lái: «Phở ohne Pilot». Aber schliesslich gibt es heute auch Drohnen, und Tofu ist als Ersatz doch sehr in Ordnung. Die selbstfahrende Pho.

Vielleicht mehr noch als andere Gerichte ist Phở Ausdruck einer bewegten Geschichte, zumal sie nur etwas über hundert Jahre alt ist: Die Franzosen hatten ihre Finger im Spiel, die Chinesinnen und die Amis, der Krieg natürlich und die Kommunisten, und trotzdem und ganz einfach: war Phở auch immer eine Rettung. Trost und Geborgenheit, der Moment, an dem ein mieser Tag die bösen Geister losschüttelt, der Kater freundlich wird, schwache Gliedmassen sich wieder anzufühlen beginnen.

Dass sich Phở von Pot au feu ableitet, einer französischen Gemüsesuppe mit Fleischeinlage, ist eine gern erzählte Geschichte, die vielleicht gar nicht wahr ist. Könnte auch sein, dass der Name vom vietnamesisch-kantonesischen ngưu nhục phân (Rind mit Reisnudeln) kommt. Auf jeden Fall aber ist die Suppe ein Produkt der verschiedenen Kulturen, um die Jahrhundertwende irgendwo an der Schnittstelle dieser Einflüsse in Hanoi entstanden: vietnamesische Strassenköche (tatsächlich meist Männer), chinesische Einwanderer*innen, französische Kolonialmacht. Dass man in Vietnam überhaupt Rinder schlachtete, ist den Franzosen zu verdanken, die auch fernab der Heimat stolz waren auf ihren so distinguierten Geschmack und darum auf ihr Entrecôte nicht verzichten wollten. Irgendwer muss sich um die Resten kümmern – vietnamesische Metzger*innen begannen deshalb, die Knochen und das übrige Fleisch weiterzuverkaufen: die Grundlage für die Fleischbrühe.

Kein Festessen also, und trotzdem hat die Kommunistische Partei Phở ab den Fünfzigern verboten, oder zumindest das Rezept anpassen lassen – die Reisnudeln etwa, das sei Reisverschwendung. Weil die Sowjetunion als Wirtschaftshilfe Kartoffelstärke und Weizenmehl schickte, gab es Weizennudeln und eine mit viel Stärke angereicherte Brühe. Mancherorts wurden in die Löffel ein Loch gebohrt, um allfällige Diebe daran zu hindern, sie einzustecken. Aber wie das so läuft mit staatlichen Restriktionen, gab es natürlich trotzdem noch echte Phở, versteckt und unter der Theke verkauft – man musste einfach schnell essen, bevor ein herumlungernder Genosse davon Wind bekam.

Als 1975 der Krieg zu Ende war, trugen die vielen vietnamesischen Flüchtlinge Phở in die Welt. Ocean Vuong, vietnamesisch-US-amerikanischer Schriftsteller, beschreibt diese so schmerzhafte Geschichte aus den Augen eines Jugendlichen der zweiten Generation. «On Earth We’re Briefly Gorgeous» erzählt in zärtlicher Sprache von einer Kindheit im Nail Salon, Hartford, Connecticut; erzählt vom Anpassen an eine neue Welt, von Zugehörigkeit und Daheimsein. Burger in der einen Welt und Phở in der anderen:

What I know is that the nail salon is more than a place of work and workshop for beauty, it is also a place where our childern are raised (…). The salon is also a kitchen where, in the back rooms, our women squat on the floor over huge woks that pop and sizzle over electric burners, cauldrons of phở simmer and steam up the cramped spaces with aromas of cloves, cinnamon, ginger, mint, and cardamom mixing with formaldehyde, toluene, acetone, Pine-Sol, and bleach.

Phở ist weit davon entfernt, meine Heimat zu sein, und doch sind da Tage, an denen mich nichts mehr in Ordnung bringen kann. Im Sommer sind wir einmal, als die Schwestern vom Radio Bollwerk im Schloss Köniz den Platz bespielten, da hochgefahren, viel zu spät dran. Auf halbem Weg haben wir Halt gemacht: Phở Saigon Liebefeld, eine freundlich-bestimmte Frau im winzigen Gastgarten, die den Laden meist alleine schmeisst. Wir setzten uns, mit unseren schwachen Lungen und müden Herzen, haben langsam ein Bier getrunken und geraucht. Die Phở ist hier sehr gross, sehr reichhaltig, sehr gut. Ausserdem gibt es eine scharfe Sauce dazu, die diesen Namen tatsächlich verdient. Da sassen wir, verschwitzt und glücklich.

Les Jeudis Pho Bo Take Away im Gärbi Breihaus, Biel, Donnerstag 18.00-21.00. Bestellung ab vier Personen (032 501 27 57) oder Take Away.

Pho Saigon, Könizstrasse 236, 3097 Liebefeld. Montag bis Freitag 11.00-14.00 und 17.00-22.00, Samstag 11.00-22.00, Sonntag geschlossen. Vorbestellung per Telefon: 031 971 61 65 (und dann selber abholen).

Die historischen Informationen zu Phở stammen von Andrea Nguyen, vietnamesisch-US-amerikanische Kochbuchautorin.

Ocean Vuongs «On Earth We’re Briefly Gorgeous» ist 2019 und auch auf Deutsch erschienen («Auf Erden sind wir kurz grandios»).

Das Bild stammt aus «Technique du peuple Annamite» von Henri Oger (1908/09) und zeigt einen Phở-Verkäufer in Vietnam (damals von den Franzosen «Annam» genannt).

Mutter Spaghetti heisst: KSB isst. Und macht sich einzwei Gedanken dazu. Weil Essen Kultur ist und der Bauch das zweite Hirn.