Ich stehe in einem Raum voller Porträts, aber niemand schaut mich an. Beschäftigt mit sich selber, auf die eine Art oder andere, schlafend, betrunken, betäubt, verloren. Sie haben mir nichts zu sagen, sie wollen es vielleicht auf keinen Fall, aber sie hängen hier im Museum und sind gezwungen, sich von mir anschauen zu lassen. Hier treffe ich auch einen, der die Aussenwelt höchstens als Spiegel braucht und schliesslich liebend stirbt: Narziss schaut nicht von der Wasseroberfläche auf. Ich frage mich, ob ich ihn beneiden kann oder will.
Sigmund Freud nennt in einem Text von 1917 drei grosse Demütigungen des menschlichen Narzissmus: die Auflösung des geozentrischen Weltbilds, die Evolutionstheorie und die daraus resultierende Unmöglichkeit, sich selber als Abbild Gottes zu sehen sowie die Entdeckung des Unbewussten – wer bin ich denn noch, wenn ich nicht einmal meine eigenen Gedanken, mein eigenes Fühlen kontrollieren kann? Alles zerfällt im Berner Kunstmuseum stützt sich auf Freud und sucht nach dem verlorenen Menschen im Aussen und Innern; oder schaut ihm vielmehr beim Suchen zu. Schweizer Kunst zwischen 1830 und 1920, ungefähr: Krise, Krieg, Angst, Versprechen. Wo kann der Mensch hin, wenn in ihm drin alles verrückt und verrutscht ist?
Im Innern Berns vorhin ist es anstrengend und seltsam, die Strassen wunderlich bevölkert von Daunenjacken und Schalungetümen und ausserdem von exzentrischen Hundsgeschöpfen: Drei afghanische Windhunde tänzeln um eine Frau mit ebenso langem Haar, zwei orange Dackel schweben tausendfüsslerähnlich knapp über dem Pflaster, einen Mischling mit Bart gibt es und eine Reinrassige, die aussieht wie eine Katze, wohlig versteckt im Busen einer Frau. Auf dem Weihnachtsmarkt tanzt Extinction Rebellion wie eine mit wenig Geld und Leidenschaft produzierte Filmszene «Flashmob».
Auch deshalb Flucht ins Museum, zu Menschen, die sich, einen Raum weiter nicht mehr so passiv, mittlerweile verwandelt haben: Nach aussen gekehrt wachsen ihnen Hörner, Flossen und Flügel, werden sie zu halben Stieren und Pferden. Manchmal sind sie wütend, geraten in Tobsucht ausser sich – kaum ein angenehmer Zustand, aber immerhin aktiv.
Félix Vallotton im oberen Stock sah das Rauschen der grösseren Städte nicht unbedingt als Grund auszureissen, sondern als Möglichkeit darin unterzugehen. Lärm hat den Vorteil, dass man das Klingeln in den eigenen Ohren nicht hören kann.
Vallottons Holzschnitte lassen Weiss im Schwarz versinken, man sieht dort den Schmutz weniger gut. Die moderne Grossstadt als Moloch und Hoffnung, als Projektionsfläche der Ängste einer sich vernetzenden Zeit. Wo bleibt der Mensch in der Menschenmasse, kann er mit all den Eindrücken umgehen? Ja, sagt zumindest Vallotton, der sich nicht scheut, fasziniert zu sein und die flimmernden Eindrücke in schwarzweissen Rechtecken denkt, mich an die Hand nimmt und sagt: Schau mal, das magst du doch auch. Exzess, Entfremdung, Überfluss, Anonymität – Vorwurf an und Verheissung durch die Stadt haben sich bis heute kaum aufgelöst. In der modernen Grossstadt konnte der Mensch der Jahrhundertwende die Ruhe nicht finden und wollte es entgegen der Kulturpessimist*innen vielleicht auch gar nicht.
Was ratlos stimmt, aber möglicherweise Mut im Blick auf heute macht: Auf dem Land suchte man sie ebenfalls umsonst – und fand höchstens Schweigen. Dem Lärm der Grossstadt steht in der Schweiz des ausgehenden 19. Jahrhunderts die stille Krise der Landwirtschaft gegenüber. Man sieht es den Hodlers und Ankers an, die so eingebettet ganz anders aussehen als in der Umgebung von Christoph Blochers Büro; wo die Menschen nichts Heroisches an sich haben, das Elend wie eine schwere Jacke um ihre Schultern gelegt, und wo man sie auch nicht bemitleiden will. Wer hier Idylle sucht, wird entweder enttäuscht oder schottet sich so sehr ab, dass nur noch die eigene Zurückgezogenheit zählt.
Adolf Wölfli muss ich auslassen und die heimgesuchten Häuser auch, weil ich endlich verstehe, wieso mir die Aufsicht in jedem Raum wieder begegnet und ich abgesehen davon ganz allein bin im oberen Stockwerk: Das Museum schliesst um fünf, ich erstehe noch drei gnädige Minuten Schnelldurchgang. Könnte auch sein, dass man der Ausstellung zugrunde liegenden Theorie zu viel Unterschiedliches anhängen kann.
Dann lasse ich mich zurück auf die Strasse spülen, es ist fast schon dunkel. Vom nassen Pflaster scheinen Lichter, Hunde sehe ich keine. Später trinke ich an einem Weihnachtsapéro viel Alkohol und bin zufrieden, noch später schlafe ich im Zug ein. Am Wochenende bin ich sehr wach und schlafe dann zweimal zwölf Stunden, aber müde bin ich immer noch, draussen rauscht es zu laut und drinnen im Grunde auch. Irgendwo schreit es nach Gründen und Erklärung, irgendwo fällt mir etwas aus den Händen, irgendwo schaut ein Spiegel zurück. Aber Narziss, er ist nicht zu beneiden. Wo kann der Mensch hin, wenn in ihm alles verrückt und verrutscht ist? Nicht alleine zu sein ist die einzige Antwort, die sie hier im Museum nicht ausprobiert haben.
Bild: Ausschnitt aus Frank Buchser, Flutumfangen, 1876. Öl auf Leinwand. Kunstmuseum Bern, Bernische Kunstgesellschaft.