Nesting Grounds

22. September 2022, 18:03 Uhr <timkummer@hotmail.com>:

hallo maxi

ich sitze auf dem balkon und rauche zigarettenstummel aus dem aschenbecher. die tauben sind weg.

aber alles von anfang an. wir waren ein paar tage fort, mein mitbewohner und ich und als wir zurückkamen lagen da zweige. zwei tauben tauchten immer wieder auf, flogen einen bogen wenn sie uns sahen. ich habe die äste weggeräumt, aufs geländer gelegt, damit sie sie an einem anderen ort wieder brauchen können. aber sie wollten bleiben, haben sie neu angeordnet, da unter der bank. den verwelkten blumenstrauss, welchen ich rausgelegt habe, wurde zerlegt und verwendet.

wir waren zu beschäftigt, um wirklich was dagegen zu tun, da lag plötzlich ein ei da. und darauf die tauben, abwechslungsweise. wenn wir am morgen in die küche kamen, war es das erste was wir sahen, die wachen, orangen augen. je mehr wir den balkon wieder benutzten, desto ruhiger wurden sie. wir sassen also da, gegenüber dem nest, erzählten uns von unserem tag und vielleicht hörten sie zu.

dann waren sie plötzlich weg. beide eier, und keiner von uns ist es gewesen. die tauben kommen auch nicht mehr, auch nach ein, zwei tagen. vielleicht ein milan, ein marder, vielleicht der nachbar mit seinem hund und einem alkoholproblem. ich habe das nest in einem papiersack verstaut, ich habe es nicht übers herz gebracht es fortzuwerfen.

traurige grüsse, tim

 

28. September 2022 12:06 <maxi.ehrenzeller@gmail.com>:

hoi tim,

mein quartier in amsterdam ist auch ein bisschen das tauben-quartier, es ist am stadtrand, ein hochhausquartier mit vielen betonbalkönen. ich war wie du weg, in den ferien und sie kamen, haben eier gelegt. meine mitbewohnerin konnte/wollte das nest nicht entfernen, oder sie verscheuchen, also blieben sie. ich kam zurück und amsterdam ging in den lockdown. der balkon befindet sich direkt neben meinem zimmer, meinem bett, es trennte mich von den tauben nur eine nicht allzu dicke holzwand.

ich habe angefangen sie zu zeichnen, immer und immer wieder. wie sie auf den eiern sassen, wie die babys herumhüpften, hungrig auf die eltern warteten. ich habe angefangen sie zu häufen in meinen zeichnungen, sie in mich hineinzuzeichenen und sie mir einzuverleiben. ich musste an kafka denken und sein zitat: «Es ist nicht notwendig, daß du aus dem Haus gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden.»

die tauben hatten keinen lockdown, sie flogen herum, manchmal setzte sich eine gemütlich auf die strasse, die sonst so befahren ist. sie waren der schnauf der stadt, haben die stadt am leben gehalten.

die tauben wuchsen schnell, sehr schnell und nach etwa 3-4 wochen waren sie schon gross genug um auszufliegen. tauben brüten oft an orten, wo sie schon mal gebrütet haben und vielleicht waren sie schon vor mir auf dem balkon. was blieb war ganz viel, kot, der balkon war alles zusammen, wohnzimmer, küche, klo, sie machen da keine unterschiede. ich putzte also das ganze auf, glücklich und auch traurig. die tauben aber blieben bei mir.

bis bald, maxi

 

29. September 2022, 18:03 Uhr <timkummer@hotmail.com>:

hei!

ich habe nachgeschaut, über 400 millionen tauben gibt es auf der welt und sie sind kaum von der stadt wegzudenken. auf dem balkon leben wir zusammen, wenn wir sie nicht aussperren mit netzen und stacheln. ich fühle mich manchmal unglaublich vereinzelt in dieser stadt und sie ist ja viel kleiner als amsterdam. da war diese nichtmenschliche bekanntschaft eigentlich ganz willkommen.

grüsse vom balkon, t

 

2. Oktober 2022 12:06 <maxi.ehrenzeller@gmail.com>:

lieber tim

ich habe angefangen zu recherchieren, was sie für uns menschen bedeuten, in verschiedenen religionen, erzählungen und geschichten, wie sie die ganze welt bevölkern konnten und so weiter. es gibt eine geschichte im koran. mohammed versteckte sich in einer höhle, vor dessen eingang kurze zeit später ein nest bauten. die verfolger zogen am versteck vorbei, da sie nicht glaubten, dass dort, wo eine taube nistet, ein mensch sein kann.

küsse, maxi

Bildlegende: Dangerous fire, 2022, oil on canvas, Maxi Ehrenzeller

Der E-Mailverkehr und Gespräche über die Tauben führte zu einer Ausstellung auf dem Balkon von Tim mit einer Malerei von Maxi.

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Dezemberausgabe des KSB Kulturmagazins.