Neuer Realismus am Bahnhof

– oder davon, den Grund wieder zu spüren. Vor lauter Kellerlöchern und versteckten Bühnen, wo die Szene sich aufputzt und Linien zusammenkratzt, das letzte Geld auch und so etwas wie Hoffnung hinzubiegen sucht – vor lauter Eskapismus droht hier der Haarriss im Raum-Zeit-Kontinuum. Zeit, die Füsse auf den Boden zu kriegen, anstatt die Zwangsjacke umgeschnallt, schliesslich ist Frühling.

Reality Check. Der Bahnhof empfiehlt sich – vor dem Kaffee «Florian» spiessen Wikinger Bierdosen auf Absperrgitter, als wären es die Häupter ihrer Feinde – da verschärfen sich Realitäten. Hyperrealismus hat gerade um Feierabend Hochkonjunktur hier. Pendler, Touristen, Yuppies, Randstand, Kinder – ein gesellschaftlicher Querschnitt, kaum so dynamisch zu sehen sonst, auf so engem Raum. Wenn dann noch das Licht richtig einfällt – Hopper hätt’s gemalt.

Mit etwas Betrachtungsdistanz eine der besten Szenerien, um die Backe wieder auf den kalten Asphalt zu kriegen, um einer Komplettverschmierung im individuellen Bewusstseinsstrom entgegenzuwirken. Wie Nadelstiche in die Fussreflexzonen.

Apropos Fussgängerzone, an der nahen Ampel mimt Morpheus zur Rush Hour den Marktschreier und hält die rote Pille feil. «Vergiss es Bruder, hier spicken alle die blaue.» Auch die pöbelnden Penner haben in dieser Matrix ihre zugeordnete Rolle. Grölend und saufend speisen sie hier den Distinktionswillen der Arbeitsgesellschaft – so abstürzen wollen wir nie! Das sichtbare Dia des sozialen Abstiegs als notwendige Bedingung dafür, die kognitive Dissonanz des Trotts für den Hauptstrom aushaltbar zu machen.
Und sowieso, die rote Pille in Morpheus Hand verspricht zeitgeistig, wo Verschwörungstheorien Kunsttheorien als Silberstreifen abzulösen scheinen, nicht viel mehr als ein Haufen gequirlter Scheisse. Vielleicht ist Mischkonsum vielmehr der Weg – am Bahnhof hat der auf jeden Fall einen strukturellen Platz. Psychoaktive Substanzen ohne Ende, in den diversen Apotheken, Bars, Coop, Kiosk vor dem «Sous Sol» und von den Wikingern gar nicht erst die Rede – zu werfende, zu stürzende, zu schnupfende, zu inhalierende Präparate bedingen einen nicht unwesentlichen Teil der Entropie des Systems Hauptbahnhof. (Scheiss auf Konstruktivismus jetzt aber, schliesslich ging’s in der Anlage um festen Grund.)

Ich steh also an der Kasse des Migros Christoffel, mit einer Packung Schmelzbrötchen, als sich mir tatsächlich Einsichten des neuen Realismus vergegenwärtigen: vor mir zwei Konsumenten vom schiessenden Schlag in Jeansjacke und mit Kickboards, auf der anderen Seite des Rollbands die Verkäuferin, eher vom Schlag Buurezmorge. Die Junkies haben Backpulver gekauft. (Zusammen mit Kokain aufgekocht, ergibt das Crack. Ist zwar dann gestrecktes Koks, ballert beim Rauchen aber irgendwie härter.) «Wollen wir noch was anderes für in den Cocktail? Hast du Zitronen?» (Ascorbinsäure, also Vitamin C, wird gebraucht, um Heroin wasserlöslicher und somit schussbereit zu machen.) Darauf die Verkäuferin: «Gläser und Cocktailschirmchen stehen in der Haushaltsabteilung.»

324 000 Wirklichkeiten zirkulieren am Bahnhof Bern täglich und können potentiell aufeinandertreffen, harte Kontraste sind schon wahrscheinlichkeitshalber garantiert. Das klopft wach und klatscht, wie Schellen, die sich besoffene Le Ciel-Gänger am Bollwerk zimmern. Denn all diese Realitäten sind gleichermassen wahr und darum geht’s. Klingt am Schluss banal, aber vielleicht reicht das – vor lauter Realitätsfluchten vergisst man manchmal, dass diese Flucht bloss eine weitere Realität darstellt. Wenn mal wieder der Zusammenhang flöten zu gehen droht, halte dich im Bahnhof an die Rolltreppen, rauf, runter, rauf – und bedenke diese schiere Pluralität. Es gibt nicht das eine grosse Ganze – das hilft. Oder Gerüche, darum auch mit Schmelzbrötchen an der Kasse, Mama hat mir die früher immer gebracht, wenn ich krank war.