Der Lastwagen bleibt fast leer an diesem blauen Frühlingsmorgen, einen leeren Altglascontainer laden wir ein und eine leere Europalette, für das restliche Leergut, das es abzuholen gilt – bis am Montag waren die Beizen noch offen.
Tarim setzt sich ans Steuer und wirft den Diesel an: «Schau, da hat es einen Lumpen, den ich mit Brennsprit getränkt habe, damit können wir uns die Hände desinfizieren, schliesslich sammeln wir harassenweise Spuckreste in offenen Flaschen ein.» Da hat der Tarim recht, das hatte ich mir so noch nicht überlegt.
Auf der ersten Tour Richtung Bahnhof kreuzen wir zwei Ambulanzen mit Blaulicht und drei Polizeistreifen, die schleichend die Quartiere kreuzen. «Schäferhunde geraten ganz aus dem Häuschen, führt man sie an eine Herde Schafe ran, wenn sie ihre Bestimmung wittern», sage ich zu Tarim und er nickt und dreht das Radio auf.
«Wir müssen nun alle solidarisch sein», klingt es da aus den Lautsprechern, bevor ein Lied losplärrt: «Es esch emol e Maa gsi, dä het e Frau könnt und für die Frau het sis Härz brönnt …», was auch immer das ist – nach Solidarität klingt es nicht.
Länggassstrasse – an einem Balkon hängt eine Girlande aus Plastikfähnchen mit Buchstaben, da ist es schon wieder: «#solidarithé» steht da drauf.
«Leute haben vor gut zehn Tagen noch was von ‹nur einer strengen Grippe› gefaselt», sage ich. «Gleiche Leute liegen nun wohlgebunkert in sonnengefluteten Wohnungen und salben sich die Hände in Desinfektionsmittel. ‹Stay the fuck home›, teilen sie in die sozialen Medien und geben zu bedenken, dass es auch Menschen auf der Strasse gibt, die kein Zuhause haben. Alles geht, was einfach geht – eine Zeitdiagnose. Emmanuel Macron hustet was von Entwicklungsmodell hinterfragen, in das unsere Welt seit Jahrzehnten verwickelt sei und davon, dass die Pandemie jetzt schon deutlich gemacht habe, dass es Güter und Dienstleistungen gebe, die ausserhalb der Marktgesetze gestellt werden müssten. Einmal Gestus Solidarität und alle klatschen Beifall. Für eine Erkenntnis, die höchstens einer Sekunde Denkarbeit bedarf. Dieser verdammte Januskopf hat doch nur Angst, dass ihm sonst die Gelbwesten den Arsch hochgehen lassen auf seinem Präsidialstuhl. Solidarität verkommt zur Worthülse, in den Satzbau zu klemmen bei Bedarf. Ein massenpsychologischer Trumpf, schönes Wort im Schwitzkasten.»
«Gut brüllen kannst du Löwe, aber schweig jetzt und steig aus, du nervst schon wie ein Bürgi», sagt Tarim und ich schäme mich. Wir sind beim Sattler angekommen. Etwas weiter vorne spitzen Bauarbeiter stoisch das Trottoir auf und schwitzen dabei, die Betreiberin vom Tingel Kringel gegenüber schenkt uns selbstgebackene Amaretti. «Die müssen schliesslich gegessen werden» und eine alte Frau berichtet von ihrem schlechten Gewissen – weil sie es zuhause nicht aushält, die Corona-Sünderin.
«Ich weiss, ich gehöre zur Risikogruppe, aber ich bin alleine und kriege in der Wohnung kaum Luft. Und da hat es ja auch ganz viele die noch am Joggen sind wie verbissen und rumkeuchen, da darf ich doch wohl auch noch spazieren gehen. Und was ist mit euch, ihr müsst ja auch noch arbeiten und sowieso ganz viele andere auch. Ist das eigentlich überlebensnotwendig, was ihr da macht?“
Was machen wir da alle?
Vor uns hin angsten wie Schrödingers Katze, gleichzeitig krank und nicht krank, keine Symptome – aber wie ist das mit der Inkubationszeit? Oder Symptome, aber gar nicht so schlimm, nur vom Rauchen und so. Und dann die Epidemiologen – also versuchen wir das Gleichgewicht zu halten – zwischen der öffentlichen Gesundheit und den Belangen der Wirtschaft, die Kurve der Neuinfektionen flach halten, damit die Infrastruktur nicht berste. Uns in Demut üben – Kontrolle ist nicht mehr, nur noch Bremsfallschirm. Aus kritischer Warte bleibt sieben Mal das Mantra von der Krisenanfälligkeit unseres Systems zu beten und darauf zu achten, dass die staatlich verhängten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit nicht komplett zugunsten der Mächtigen gehen, auf den Schultern der Unterprivilegierten. Krank werden wir alle.
«Alle unwesentlichen Geschäfte wurden geschlossen hier, seit dem 9. März gilt eine Ausgangssperre. Aber die Produktion vieler unwesentlicher Güter geht weiter, der italienische Unternehmerverband Confindustria hat dafür gesorgt. Der Virus macht jedoch vor keiner Fabrikhalle halt», berichtete mir am Wochenende ein guter Freund aus Napoli, der dort für die Kommunist*innen kämpft. Da brennen jetzt wilde Streiks an und Proteste flammen auf.
Aber der antiautoritäre Reflex trägt auch Billo-Schick, als identitäres Kostüm, als hätte der Apparat ein Interesse an der Misere und solchen Konstrukten – sowas hilft niemandem. Abstandhalten macht Sinn, so traurig das auch ist. Gerne auch vor sich selbst.
Die Türe zum Lastwagen ist offen und das Radio läuft noch: «Empfehlung des Bundesrates: Bleiben Sie zu Hause, insbesondere, wenn Sie alt oder krank sind. Es sei denn, Sie müssen zur Arbeit gehen und können nicht von zu Hause aus arbeiten; es sei denn, Sie müssen zum Arzt oder zur Apotheke gehen; es sei denn, Sie müssen Lebensmittel einkaufen oder jemandem helfen. Der Bundesrat und die Schweiz zählen auf Sie!»
Boah, ok, dieses Pathos, es gilt zu relativieren, dass … «Homeboy, können wir jetzt endlich den Sattler machen?», ruft Tarim. Wir halten uns ran zusammen und bergen leere Bierbomben aus dem Keller. Am Tresen, im Dunklen, macht uns der Chef danach einen Espresso. «Mein ganzes Team ist jetzt einfach arbeitslos, keine Ahnung, ob wir die Kurzarbeit bewilligt kriegen. Die sind alle auf ihren Lohn angewiesen.» Wir schweigen beim Trinken und währenddessen macht hinter uns eine Putzkraft den Riemenboden sauber. Ich denke an das ganze Pflegefachpersonal in den Spitälern. Wir verabschieden uns. «Jungs», ruft der Chef uns nach, «ich hab noch frische Milch über, wollt ihr davon mitnehmen?»
Auf der Rückfahrt halten wir die Scheiben der Kabine offen und recken unsere Köpfe in den Wind, die Sonne ballert. Es ist Frühling – aber es kickt nicht. Alles scheint unendlich weit und leise, es hat keine Wände sich darauf abzustützen oder abzugrenzen – es fehlt die Normalität.
Im Lager angekommen rangieren wir an mannshohen Tetris-Klötzen von Harassen mit unseren elektrischen Ameisen und gelben Palettrollis. Wie besoffene Wespen steuern wir die farbigen Türme aneinander vorbei, bis wir innehalten. Eigentlich haben wir gar nichts mehr zu tun. Ich schaue nach der Zeit auf meinem Telefon, und ich sehe, dass ich eine Petition zum Unterschreiben erhalten habe: «Bedingungsloses Grundeinkommen für die Schweiz in den nächsten 6 Monaten.» Ich schaue auf zu Tarim und sage: «Für immer und überall», dann machen wir Schluss, die Arbeit ist uns heute gerade ausgegangen.