Nothing to hide anymore?

Die Scheibenwischer rudern wie Nichtschwimmer, ich sehe kaum durch – das Autoradio rauscht und dann diese Nachricht, wie ein Blitz: «Der Amerikanische Supreme Court schafft das national geltende Recht auf Abtreibung ab.» Wie im Frühling, als der Kriegsausbruch in Europa verlautet wurde: ein Gefühl, als würde dich ein steinharter Schneeball treffen, aus der Eiszeit. Ich denk an eine gute Freundin, die zwei Abtreibungen durchgemacht hat, die letzte im Winter – ich muss ihr schreiben. «N., Liebe, scheisse, ich hab grad die Nachricht aus den Staaten am Radio gehört. Und ich weiss, das ist sehr persönlich, aber da wir darüber sprachen – ich riskier das jetzt: Was macht es mit dir?»

«Lieber, uff, that’s a hard one – ich weiss echt grad noch nicht, was ich sagen soll. Ich fühl mich bedroht, It’s a fkn shame. Aber lies mal Siri Hustvedt, ‹On the Toxic Thinking Behind the Supreme Court’s Destruction of Abortion Rights›. Ich find den Essay sehr gut und er hat mich irgendwie auch getröstet.»

Zuhause lese ich mir die Sache durch. Hustvedts Essay schürft die ideologischen und politischen Tendenzen des Entscheids des Supreme Court frei: frauenfeindlich, rassistisch, antisemitisch und xenophob. Hustvedt zeigt, dass der Entscheid auf die reaktionäre Rechtstheorie des «Originalismus» setzt. Eine Haltung, die die bibeltreue Auslegung der Verfassung von 1787 verlangt, den sogenannten «objektiven Volkswillen von damals» respektierend. Damals, als das «wir» in dieser Verfassung nur ihre Verfasser repräsentierte: besitzende, weisse Männer. Da steht natürlich nichts von einem Recht auf Abtreibung. Und es steht auch noch von ganz viel anderem nichts. Es ist schliesslich ein «wir», das sich buchstäblich als «souverän» versteht und die Abhängigkeit von anderen Menschengruppen deshalb ideologisch negiert. Schwäche zeigen – keine amerikanische Stärke. Stringent folgefalsch hat nach dieser Haltung schon das «Ungeborene» (als potentieller Verbündeter?) stark und auch unabhängig zu sein, wird darum vom allerersten Zeitpunkt der Befruchtung an als statische Entität definiert, losgelöst vom Körper der Mutter, der – zum Brutcontainer degradiert – als Objekt ohne Selbstbestimmung auf der Strecke bleibt. Eine Idée Fixe, die keine Mitte kennt, die weder biologisches Wissen reflektiert, noch Interesse an irgend sonst einer Entwicklung hat, auch politischer nicht, und somit im Kern antidemokratisch ist, findet Hustvedt.

«Liebe N., ich hab den Essay gelesen, merci. Traurig schön. Gerade wie sie auch historisch schreibt – auf die Tradition von Selbsthilfepraktiken amerikanischer Frauen verweist, wo ein Wissen von Sklavenfrauen und prekarisierten Einwandererinnen sich den Weg auch in die weissen Einfamilienhäuser bahnte. Bevor Ärzte und Physiker der Dynamik einen medizinisch-institutionellen Riegel vorgeschoben haben, in der Angst die Kontrolle über die Frauen zu verlieren und bewaffnet waren mit dem sauberen Gewissen der Hygiene und der Wissenschaft. Und dass das stummgeschwiegen wird von der Macht, ach.»

«Ja, man muss davon reden Urs, mehr und mehr und immer wieder. Ich habe mir das überlegt und mach dir gerne ein Statement. I have nothing to hide anymore.» (Persönlich möchte ich hier sagen, haben mich nach dem Lesen des Essays auch Zweifel an der eigenen Haltung gepackt. Überzeugt von der Selbstbestimmung der Frau, habe ich die Abtreibungsfrage von mir als Mann immer abgespalten. Der Verdacht der Verdrängung von Verantwortung drängt sich auf – bleibe ich als Mensch, über das Individuelle hinaus, nicht mehr schuldig?)

«Urs, ich habe ADHS und bin neurodivergent. Risky behaviour is a fact sometimes. Und im Winter hatte ich Covid, mein Zyklus hat sich dadurch verschoben und die hormonelle Verhütung ist nichts für mich. Verstehst du – es geht um das Ringen um Kontrolle. Als ich in der Klinik war, hatte ich Weinkrämpfe, das Neonlicht, diese Bare, die Instrumente. Ich hatte Angst. Und dann fragt mich das medizinische Personal, ob ich mir das nicht noch einmal überlegen wolle. Ich musste meine letzte Kraft zusammenraffen, mich zu rechtfertigen. Stille oder weniger stille Vorwürfe von Menschen im Umfeld und dann hast du das Gefühl, betteln zu müssen, um diesen Eingriff, obwohl das erlaubt ist. Schon nur das Terminfinden nach der Bedenkfrist beim ausgebuchten Gynäkologen und der Papierkrieg war ein Horror für mich. Bürokratie, und mir war sowieso schon schlecht, ich schämte mich. Mit meinem Entscheid hatte das aber nichts zu tun – es sind die Umstände. Auch wenn es legal ist, ist es noch lange nicht erlaubt genug. Dass man sich nach der Abtreibung für ein, zwei Stunden gratis psychologische Hilfe holen kann – das kam mir wie ein Hohn vor. Ich erinnere mich ganz genau an den Moment kurz vor dem Eingriff, da war diese robuste Anästhesistin und sie fragte mich, warum ich so traurig sei und ich sagte, ‹Ich fühl mich ganz alleine.› Sie antwortete mir: ‹Wir können dir tatsächlich nur mit der Operation helfen, im Kopf musst du das mit dir selber klären.›»

Der Essay «Racism, Patriarchy, and Power: Siri Hustvedt on the Toxic Thinking Behind the Supreme Court’s Destruction of Abortion Rights» gibts im Literary Hub. Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Augustausgabe des KSB Kulturmagazins.