Sagte einmal Jessica Jurassica und wir fragen: Was soll, will, kann die Literatur im Club? Gastgeber:in X Noëme aka X Schneeberger antwortet mit tanzenden Fussnoten unerhörter Geschichten.
«Es gab immer Zeug:innen. … es gibt Bilder trotz allem.»
Carolin Emcke, «Erzählen trotz allem.»
Es sei die Tanzfest- und Singspieltradition des jungen, modernen und liberalen Schweizer Bundesstaates gewesen, die den ursprünglich demokratischen Revolutionsflüchtling und hier ungenannten Komponisten zu seiner Konzeption einer deutschsprachigen Oper inspiriert habe. Die Widmung an diesen hat Nietzsche später im Vorwort zu «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik» gecancelt. Wenn wir Schritte in die Vergangenheit wagen, um umso weiter in die Zukunft zu springen, kriegen wir es vielleicht mit: Die antiken Versfüsse entsprachen den Füssen der antiken Tänzer:innen, den Tanzfüssen der Vortragenden wie den Tanzfüssen im Publikum.
Äusserst vergnügliche Szenen zur helvetischen Singspiel- und Tanzfestkultur finden sich im Roman «Martin Salander» von Gottfried Keller, am Schluss bricht alles in krachendem Chaos zusammen. Und als Menetekel prangt über dem ganzen liberalen und globalen Lokalepos der Kommentar von Frau Salander: Dass wir hier nicht mehr und mehr haben können, ohne dass andere andernorts weniger haben müssen. Sie bezieht sich auf die Herkunft ihres Familienvermögens aus den Investitionen ihres bürgerlichen Ehemannes in Sklavereiunternehmen in Übersee. Das stimmte für die liberale Schweiz, wie es für die neoliberale Schweiz wahr ist. Die Literatur erzählt in einer Festszene, dass das alles wieder und wieder in krachendem Chaos ende. Und bezieht sich dabei auf Shakespeares Sommernachtstraum, in dem wiederum das ganze Gefühlschaos einer Ecstasy-ähnlichen Substanz geschuldet ist. Wer liest, ist besser vorbereitet. Wer tanzt, auch.
Die Reise ging über Roots zu Dancehall und zu dubbigem, karnevaleskem Elektro. Ich kam mit einer anderen Tänzerin ins Gespräch: Warum sind wir hier? Sie sagte, weil sie Jenische sei – und ihre Eltern Verdingkinder gewesen sind. Und sie sagte, dass sie in der Schweiz, ohne Kultur und Sprache dafür Aufgehobenheit und Ausdruck im Tanz zu dieser Musik finde. Ich sagte, weil meine Grosseltern Verdingkinder waren und ich nicht viel mehr über meine Herkunft weiss. Weil mir eine Kultur und eine Sprache dafür fehlten, in der Postkartenschweiz. Wir lachten und hatten Tränen in den Augen, wir umarmten uns etwas impulsiv und schraken ein wenig zurück. Der Schweiss der tanzenden Körper stieg in Schwaden auf und regnete von der Decke unterschiedslos zurück. Wir tanzten Seite an Seite und sahen uns nicht wieder. Vielleicht liest sie das hier.
Rückblick, Eröffnungsabend, 19.05.2022:
Isabella Huser mit «Zigeuner» & Toni Huser mit Akkordeon
Nach dem Ersten Weltkrieg und Spanischer Grippe waren grosse Tanzveranstaltungen und Singspiele in der Krise. Auch wurde stilistisch eine Abgrenzung der Schweizer Musikkultur in Europa gesucht, diese wurde im Zürcher Niederdorf in der Beizenmusik, in der damaligen Club- und Tanzmusik gefunden. Zur selben Zeit, als eine jenisch geprägte Tanzmusik als Schweizer Ländler appropriiert wurde, begann auch die Kindswegnahme-Strategie, um die jenischen Lebensweisen, Erinnerungen, Soziolekte – die gesamte jenische Kultur systematisch zu vernichten. Diese Strategie wurde 1:1 bis in die siebziger Jahre umgesetzt. Erst kürzlich nahm die verantwortliche Organisation einen relativierenden Text von der Website, auf Betreiben von Isabella Huser. Die in Berlin und Zürich lebende Übersetzerin und Autorin las mit mal schwingender Stimme, mal lapidarem Ausdruck die bewegenden Geschichten, die sie als Nachfahrin aus den Archiven der Schweiz in die Lebendigkeit der Erzählung gehoben hat. Isabellas Bruder Toni spielte in Variation mit aberwitzigen Jazz-Phrasierungen und klezmerhafter Melancholie ein bekanntes Lied eines Vorfahren: Tony Husers «Mama» und unerwartet interpretierte Klassiker aus dem den meisten Anwesenden fremdgewordenen und doch so vertrauten Fundus der Ländlerkapellmusik, die seit dieser Begegnung ganz andere Gefühle auslöst. Darauf lehrten uns NEBULA mit Sakura & 1luu, dass ein frischer, röntgenstrahlenhafter Blick auf einst populäre Styles auch in der elektronischen Tanzmusik fruchtbar ist, contemporary Rave mit Zitaten und Paraphrasen aus Trance und Dance Music, OMG!
Vorschau, 25.08.2022:
Jessica Jurassica mit «Die verbotenste Frucht im Bundeshaus»
So tanzen wir weiter durch eine kaputte Welt, in der als Folge eine Performerin versucht, in ihrer Literatur zu verschwinden und sich so listig wie lustig aus den bitterernsten und realen Schusslinien aka physische und mediale Repräsentation herauszubeamen. Jessica Jurassica betreibt als maskierte Aktivistin Journalismus als Performance, Sexheftliroman als Performance und Debütroman als Performance – gefolgt von selbst-demaskierenden Reaktionen auf den Cis-Chefetagen, von Kritiker-Boomern und Booking-Gatekeepern. Wir sind mit euch noch nicht fertig, heisst das!
☐ Wir sehen uns
☐ Wir sehen uns nicht
(Bitte ankreuzen) aber: READ!
Clubliteratur im Soso am Bollwerk, www.sososo.space