Ein Mann sucht seine Brille und denkt über den Wert von Gegenständen nach

Die schönste Szene des Films passiert davor, als wir uns noch in den Sesseln des Kino Rex zurechtrücken, Sonntagabend: Weh an allen Enden. Die Band sitzt hinter ihren Instrumenten. Und fast schon rollt der Film, da wendet sich Christian Garcia-Gaucher an den vollen Saal: «Einen Moment bitte! Hat jemand meine Brille gesehen? Liegt irgendwo auf einem Sessel eine Brille?» Jemand bietet seine Lesegläser an und Emilie Zoé, bühnenmittig, fragt, ob er ohne Brille überhaupt spielen könne. «Ja, schon, aber es wäre doch gut die zu haben, es ist halt meine Brille.»

Ein warmer Einstieg ist das, darüber kann man im Reinen lachen und Emilie Zoé lacht mit. Die Brille bleibt vorerst verschollen, dann geht es doch noch los: «Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach», langsamer Film mit langem Titel und dritter Teil von Roy Anderssons Trilogie über das menschliche Dasein, zu dem sich Zoé und Garcia-Gaucher einen alternativen Soundtrack herbeigeträumt haben und an diesem Sonntagabend, begleitet von Schlagzeuger Nicolas Pittet, in Echtzeit mit dem Originalgegenstand vermählen.

Die drei machen ihre Arbeit behutsam und genau, in der Art erfahrener Theatermusiker*innen. Sie mischen sich unter den Film und schaffen an mancher Stelle sogar das Kunststück, die zwei akustischen Räume zu vereinen, den Kinosaal zu erfüllen und doch aus Anderssons trüben Kulissen zu klingen. In der Tanzszene, wo eine übergriffige Flamenco-Lehrerin ihren Lieblingsschüler verscheucht, setzt sich die Band mit Geduld auf den Takt, in die Chorszene nistet sie sich harmonisch färbend ein und übertönt sie schliesslich ganz. Und als der miserable Handelsvertreter im Wohnheim immer und immer wieder das selbe Lied anspielt, dessen Ende er nicht ertragen kann, setzen auch Zoé, Pittet und Garcia-Gaucher, inzwischen wieder mit voller Sehkraft (Brille lag neben seinem Stuhl), synchron stets auf ein Neues an. Mancher Kinogast wird mit diesem traurigen Liedchen im Ohr nach Hause getrottet sein.

Ob das erdige Folk-Songwriting dieses mindestens für sich sehr anmutigen Alternativsoundtracks, die Stimmen von Zoé und Garcia-Gaucher dem Film letztlich etwas nötige Wärme mitgeben oder ihn womöglich so um seine existentialistische Qualität bringen – das wäre Diskussionen wert bei letzten Zigaretten kurz vor dem Herzinfarkt oder beim ineinander von der Welt Verschwinden am Stadtrand (mit Hund).

So ist es denn am Ende das einzige, was wir mit dieser Band nicht ganz teilen können: Die uneingeschränkte Faszination als Liebe zu diesem streckenweise sehr lustigen Langfilm, dessen penibel stilisierte Postkarten bei der zweiten Ansicht fast so blass wirken wie die auf tot geschminkten Tröpfe, die saftlos durch die Szenen stolpern. Die Schlussszene ist dann so bilanzierend banal in der Emphase des Absurden, dass man sich über den befreiten Auftritt der Band zum Abspann gleich doppelt freut. Und dass man sich wünscht, die Sache mit der Brille hätte schon zum Film gehört anstelle dieser als Reflexion inszenierten Nummer an der Bushalte, wo sich einer doch tatsächlich im Wochentag vertut.

Der 2015 mit dem venezianischen Goldenen Löwen ausgezeichnete Film heisst im schwedischen Original «En duva satt på en gren och funderade på tillvaron». Emilie Zoé und Christian Garcia-Gauchers alternativer Soundtrack «Pigeons – Soundtrack for the Birds on the Treetops Watching the Movie of Our Lives» ist 2020 beim Neuenburger Label Hummus Records erschienen. Die verbleibenden Tourdaten finden sich hier.