«Pleasure first! Treatment second»

Chlamydien, Corona, Scabies – Gastautorin Sarah Wyss mit einem hygienisch-moralischen Streifschuss über die Schuld in den Zeiten der Cholera.

Der Chor singt einstimmig: Wer sich nie gegen Krätze behandeln lassen musste, hat a) nicht in Bern b) nicht gelebt. Weil ich beides mache, war auch meine Zeit gekommen. Das ist aber gar nicht weiter schlimm, da auch das Stimmchen des Szeneprestiges mitsingt und mich deshalb eher ein gewisser Stolz erfüllen sollte.

In der Realität ist es aber vor allem eine Organisations- und Kommunikationsangelegenheit. Nachdem mir die unheilvolle Nachricht verkündet wurde, ist es nun an mir sie zu spreaden. Per Telefon lade ich ein zum lustigen Rigrettospielen. Die meisten reagieren gelassen, been there, done that. Andere weniger. Mein Mitbewohner hat nur ein Lachen übrig, als ich ihn raten lasse, welche Krankheit möglicherweise auch in ihm schlummern könnte. Seit 7 Monaten knechtet ihn das Pfeiffersche Drüsenfieber, heute Morgen hat er sich auf Corona testen lassen, jetzt Scabies – die heilige Dreieinigkeit der unbeliebtesten Krankheiten, vereint in einem Menschen.

Diese Seuchen haben, zusammen mit allen Infektionskrankheiten, eines gemeinsam: Bevor du auf 3 zählen kannst, folgen die immergleichen Fragen. Wer hat wen angesteckt, wo ist der Ursprung – also: Wer ist Schuld? Darauf folgt: War sich die infizierte Person dessen bewusst? Hat sie die Information vielleicht mutmasslich vorenthalten, nicht auf etwas verzichten wollen? Hat sie verantwortungslos gehandelt? Hätte sie nicht kommunizieren müssen, dass ihr Husten, Jucken, Kratzen im Hals oder nicht im Hals vielleicht einen Grund haben könnte?

Aus einer gewissen persönlichen Dringlichkeit entschied Lauren Peters, ihrem fling William eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der moralischen Schuld an Chlamydien zu bieten. Der Brief, der entstand, handelt von Verantwortung, Unwissen, dummen Zufällen, Lust und Unlust an Kondomen. Lauren holt sich zur Unterstützung Sorrycrates als unabhängige Instanz ins Boot. Der Gute vermittelt zwischen Lauren und Will, zieht ein paar alte Freunde dazu und hilft Lauren so, die unangenehme Mitteilung zu überbringen: «So go forth, William. Go forth and get tested.»

Der Sorrykratische Dialog: Entschuldigung in einem Akt
Übersetzt und gekürzt von Sarah Wyss

SORRYKRATES: O William, du bist vielleicht überrascht, dass ich, der doch so selten bei dir anklopft, heute hier stehe und diese Worte spreche! Sei versichert, ich überbringe diese Nachricht nicht ohne Kummer und Bangen. Und doch muss ich dir nun sagen, weshalb ich gekommen bin: Lauren Peters, die gleiche Lauren Peters mit der du am 6. Januar 2018 das Biest mit zwei Rücken gemacht hast, hat – ich wage es zu sagen – eine Geschlechtskrankheit. Sie ist unter dem Namen Chlamydien bekannt.

WILLIAM: O Sorrykrates! Wie deine Worte in meinen Ohren widerhallen und in meinem Kopf nachklingen, sie prallen an meinen Trommelfellen ab und bedrängen mich mit ihrer Nachricht. So dann, Sorrykrates, soll ich Lauren Peters vergeben?

SORRYKRATES: Ah, vergeben oder nicht vergeben – das ist unsere Frage, unser moralisches Dilemma. Vergebung, so sagen manche, sei die Antwort auf Verzweiflung in der Welt, denn zu vergeben bedeute, das Unrecht der Welt ungeschehen zu machen, indem wir sie aus unserer Brust befreien. Und doch, sollte Vergebung der Bestrafung dienen? Oder sollte sie schnellstmöglich unilateral verliehen werden?

WILLIAM: O Sorrykrates! Du stellst mehr Fragen als ein bescheidener Bursche je beantworten kann! Kann jemandem vergeben werden, der*die nicht schuldig ist? Denn wer ist verantwortlich für dieses Übel? Wie das alte Sprichwort besagt: Es braucht zwei zum Tangotanzen. Ist es mein Fehler, so naiv, so vertrauensselig zu sein und ungeschützt Verkehr mit einer Frau zu haben, die ich empirisch gesehen gar nicht kenne? Und wer weiss schon, wer denn nun wem die liederliche Krankheit übergab?

SORRYKRATES: Und doch bekennt sich Lauren einer gewissen Verantwortung. Denn es war ihr durchaus bewusst, dass eine Ansteckung nicht auszuschliessen war: Sie hatte eine romantische Begegnung mit einem polyamoren Zirkusdirektor und gab sich in flammender Begierde einem ihr unbekannten Mann hin, den sie in einer Diskothek traf. Beide Begegnungen haben entgegen allen Erwartungen und nach Monaten sexueller Ödnis in kurzen Abständen nacheinander stattgefunden.

WILLIAM: Gewiss. Aber wer traf überhaupt die Entscheidung, ungesattelt in dieses Abenteuer zu reiten?

SORRYKRATES: Ah, bestimmt, da hast du einen Punkt. Lauren ihrerseits kann sich nicht mehr an die verhängnisvollen fünf Minuten erinnern (Lassen wir es gesagt sein, dass sie sich an den Akt selbst erinnert). Wie kann also jemand für etwas verantwortlich gemacht werden, das sie nicht mehr weiss? Um ehrlich zu sein, Will: Da Gott tot ist und der freie Wille eine Illusion, kann niemand für irgendeine Handlung haftbar gemacht werden. Und wir haben noch nicht über das Vergnügen, die Lust gesprochen! Wie Nietzsche einmal sagte: «In deinem Körper steckt mehr Weisheit als in deiner tiefsten Philosophie». Lass uns also nicht den Intellekt den Körper überschatten.

WILLIAM: In deinen Worten höre ich, dass der Epikureismus Kondome grundsätzlich schlechtmacht. Nein, with the glove can be no love. Zuerst das Vergnügen, dann die Behandlung.

SORRYKRATES: So ist es, teuerster William. Nun muss ich dich bitten, frage dich, ob du Lauren Peters verzeihen kannst. Denn wenn es etwas gibt, was ohne Zweifel feststeht: Lauren Peters tut es leid, dass Lauren Peters Chlamydien hat. Was uns infolgedessen zur Annahme veranlasst, dass auch du von der gleichen Seuche betroffen sein könntest. So geh, William, geh und lass dich testen.