Die Monbijoubrücke – Linealstrich zwischen Betonklötzen im Westen und Aristokratenhütten im Osten.
Nichts Neues. Wenn du vom Marzili höher zu Ross steigen willst, ins Kirchenfeld, musst du erst durchs Treppenhaus oder mit dem Lift hoch. Rein unten beim Bowlingcenter, dort wo es nach Pisse riecht und Erbrochenem. Auf halber Höhe etwa, gut verbunkert im Brückenkopf, liegt eine Oase – eine Aldi-Filiale.
«Geiz ist nicht mehr geil», schreibt die Zeit und also unter die Bildfläche damit. Das solvente Bobo-Spiessertum determiniert unser konsumistisches Moraldiktat, und allen anderen die Schande – unter Tage oder unterste Etage. Zu hart Polemik? Beim orangen Riesen muss man für die meisten Budgetprodukte buchstäblich auf die Knie – während einem nickelbebrillte und kaschmirbeschalte Manufactum-Avatare die Alnatura Produkte über dem gesenkten Haupt wegpflücken, als gäbe es kein Morgen – arrivederci Selbstachtung. Und der Dutti dreht sich im Grab.
Kein Laden mietet freiwillig in ein Lokal ein, das derart versteckt liegt – ausser das Versteck bildet die profitable Nische: Aldi, einziger Ort in der Stadt, wo von der Bio-Weleda-Inquisition unbehelligt Trash hamstergekauft werden kann. Oder wo schlicht die einkaufen müssen, die kein Geld haben. Kein Geld für die Konsumlaufstege der Stadt aka Reformhaus oder Bioladen. Im Aldi seziert sich das Prekariat, die Leute mit wirklich wenig Stutz: von der arbeitslosen Geisteswissenschaftlerin über den Randstand klassischer Prägung in Penneruniform bis hin zu Familien mit Migrationshintergrund sind alle dabei. (Ein paar mittelständische Rappenspalter vom alten Schlag bilden die Ausnahme. Die gondeln meist mit Einkaufswagen zwischen den Produkteabteilungen und wenn immer möglich versperren sie Müttern den Weg, vornehmlich afrikanischen, oder osteuropäischen – Arschlöcher sind überall.)
Ich geh da wegen Zahnpasta – im Aldi gibt es Dentofit Bubblegum©, ein Kinderzahngel und meine Lieblingsmarke. In seiner Art Reliquie einer sich immer weiter individualisierenden Warenwelt. Die Kleinsten mittels Versprechen auf die verbotene Frucht – den zuckerhaltigen Kaugummi – für Mundhygiene begeisternd, so der altbekannte Trick, aber die Neuimplementierung funktioniert ebenso prächtig: Im Lola-Laden kaufen GLP wählende Ökos mit breiter Brust 100% biologisch abbaubare Kräuterpaste für die schon im Voraus CO2-kompensierte Abenteuerreise in den Urwald – Der Konsumadel kauft sich Absolution, moralisch saubere Ware, ideelle Werte. Die sind teuer.
Frau Andemariam kann sich die nicht leisten und kauft im Aldi für ihren Jungen Ghebrai eben Dentofit Bubblegum©. Weil Kind dann Zähne putzt. Indes Frau Johannson ihrem Magnus – gestrafte Seele – die Beisserchen auch zuhause mit der Kräuterpaste bürstet: mittels Verhinderung der Präkonditionierung auf Süsses, versteht sich.
Zurück im Lift Richtung oben – ich sinniere darüber, ob Ghebrai aus dem Marzili in seiner frühen Pubertät im Aldi dereinst Bilz stehlen wird, um es mit Magnus aus dem Kirchenfeld zu teilen (welchem es zuhause verboten ist, wegen der Präkonditionierung auf Bier). Die beiden zusammen trinkend auf der Monbijoubrücke, united colors of benetton? Vielleicht, aber nur wenn Leute bis dann endlich aufhören zu glauben, sie würden die Welt besser machen, indem sie Produkte kaufen. Ich teile meinen Gedanken mit der Geisteswissenschaftlerin, welche eine Papiertüte voller Weissweinflaschen trägt und den Lifttürknopf mit dem Ellenbogen drückt, sie trocken: «Nichts gegen die Intention etwas besser machen zu wollen und wenn man Cash hat sowieso Bio, aber dieser urbane Konsumterror braucht flankierende Massnahmen, wenn er gesellschaftlich zu irgendetwas taugen soll ausser Ablass.»
«Everything which is not accessable fort the poor, is not revolutionary», hat mir mal wer an einer Scheissecke dieser Kugel gesagt und hatte verdammt recht damit. «Die urbane Soziographie als Solidargemeinschaft denken, anstatt als blosse Schicksalsgemeinschaft, das wäre vielleicht mal ein Anfang – Discounter sind Aquarien entwürdigter, hilfebedürftiger Arten, von hier aus muss man Brücken bauen», legt die Geisteswissenschaftlerin nach, «Sonst gibt’s für Magnus dann höchstens auf die Fresse», erwidere ich und werde fragend angeschaut. «Na vor dem Bowlingcenter, da wo’s nach Pisse riecht und Erbrochenem.»