Postkarte aus Gent

Fragmente flippen
31. Mai 2020

Liebes Bern

Heute gehe ich mit einem angenehmen Ibuprofen-Flash spazieren und diktiere meinem Mobiltelefon Gedanken übers Zusammensein. In zwei Tagen ist Abgabetermin meiner Thesis und ich muss die Textfragmente zusammenbringen, an denen ich in den letzten zwei Monaten gearbeitet habe. Wie ist ein Zusammensein von Fragmenten möglich? Menschen seien fragmentierte Wesen, sage ich, und in jedem Moment sei es eine Entscheidung, welches Fragment des Selbst gerade ausgelebt würde. Menschen würden sich in Fragmenten begegnen, in Fragmenten sprechen. Und dass es eine widersprüchliche und beängstigende Erfahrung wäre, wenn eine Person die Kapazität hätte, all ihre Fragmente zu einem Zusammensein in einem Moment zu verbinden. Und dass es noch viel beängstigender wäre, wenn sich solche defragmentierte Personen zu einem Zusammensein treffen würden.

Als ich Isabell Lorey zitieren will, um diese bröckelige Idee zu untermauern, treffe ich zwei Skater. Sie erzählen mir, dass Skateboarden ein Sport ohne Regeln sei. Dass die Regeln und Ziele fortlaufend gemacht würden. Sie arbeiteten gerade daran, eine kleine Rampe hoch zu rollen, dann einen Sprung zu machen und rückwärts runter zu kommen. Vor diesem Trick fürchteten sie sich als Kinder, aber jetzt, wo sie ihn können, fühlen sie sich siegreich, die Angst vergangener Tage überwunden zu haben. Sie zeigen mir, wie ich auf dem Brett stehen soll und ich probiere mich. Als ich das Skateboard zurückgebe, flippt es auf die Unterseite, wo der Schriftzug «NO WAR» zum Vorschein kommt, was leicht schambeladen zu sein scheint. «I got it second hand … It is kind of stupid, because … there was never no war.» Ich antworte: «It is not stupid at all.»

Mein Gang hat sich verändert als ich weiterlaufe, ich fühle mich agiler als zuvor und denke, dass jede Begegnung auf das Tempo einwirkt. Wen treffe ich noch? Am Wegrand sehe ich ein Schild: «Pussy’s Cafe», daneben steht eine Plastikschüssel, die mit Wasser gefüllt ist. Sind das Requisiten für spontane Inszenierungen der ersten Szene in «Die Geschichte des Auges»? Ich denke an die Gewalt in Batailles erotischen Stories und an seine fieberhaft erregte Beschreibung einer Fotografie, die eine öffentliche Folter und Tötung dokumentiert. Dann betrete ich einen Friedhof.

Eher Kamerafahrt als Körper geworden gleite ich durch die Reihen von Grabsteinen und denke immerzu «Tod und Lust». Auf der Toilette des Westerbergraafplaats liegt im Abfalleimer eine aufgerissene Kondomverpackung. «Tod und Lust», denke ich.

Ich gehe an einem alten Mann vorbei, der auf einer Bank sitzt. Er ist ganz in Weiss gekleidet, mit weissen langen Haaren und einem weissen langen Bart. Da ich immer noch halb Kamera, halb Körper bin, wird er zu einer Figur in einem asiatischen Film. Ich grüsse ihn und habe das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen, was zu einem langen Blickkontakt führt, der ein Gespräch suggeriert. Das will ich aber vermeiden , weil sich mein Flämisch noch immer auf Einkaufskommunikation beschränkt. Als ich meinen Blick abwende, kommen mir zwei Personen entgegen. Eine davon erkennt mich und ich sie, und gleichzeitig erkennt die andere den Mann auf der Bank und er sie. «It is funny how we both saw somebody we know at the same time», sagt T. Sie fragt mich, wie es mir geht und ich erzähle, dass ich mich fragmentiert fühle, und dass meine Thesis auch fragmentiert sei und dass ich ein Zusammensein von Fragmenten finden müsse. Dann kommt Ts Freundin zurück und erzählt nach einer Zeit, dass sie kürzlich ihren Lover habe sterben sehen. Er wäre bewusstlos und an eine Beatmungsmaschine angeschlossen gewesen. Und obwohl die Maschine den Körper weiterhin bewegte, wäre es ganz klar gewesen, in welchem Moment ihr Freund starb. Sie meint, dass sie ihn einfach nicht mehr erkannte. «Life goes through us», sagt sie, «and it is very clear at which point it is not there anymore.»

(Intermission)

Dann stehe ich vor dem Grab eines Malers, mit einer Büste von ihm inklusive Pinsel und Palette und überlege mir, wie sehr manche Leute etwas sein müssen für die Zeit, in der das Leben durch sie hindurchgeht. Sein Name, De Cock, beeinflusst vielleicht mein Gendering in dieser Frage. Ich schicke Dir ein Foto davon und hoffe, dass dich meine Postkarte bald erreicht, jetzt wo die Grenzen dicht sind …

Herzliche Grüsse aus Gent
Roger