Leerstand ist König hier, 300 freie Wohnungen und der letzte Dorfmetzg hat im Februar dann ausgeschlachtet, nach 140 Jahren, erklärt er mir und putzt sich die Hände beidseitig an seiner Schürze, als wüsche er sie in Unschuld. Dabei meine ich Kristalle in den Winkeln seiner Augen funkeln zu sehen – es ist wohl eine optische Täuschung.
Verblendung – zwischen dampfenden Brunnen und zugenagelten Geschäftslokalen. Russinnen und Chinesen spüren da nach dem Pomp vergangener Tage, aber die Zuckerbäckereien der 90er Jahre bröckeln unaufhaltsam ohne Geld und das Tiefbauamt schneuzt Schneehaufen an ihre Fassaden, als würden sie den Hochmut der Spekulanten vergelten wollen mit ihrer hemdsärmeligen Arbeit. Marmorbruch bleibt auf dem Teer zurück.
Ich denk an Meister Baldwin, der 1951 von seinem lieben Freund (und vergessenen Maler) Lucien Jean Happersberger hierher zur Kur verschleppt wurde und da seinen intimen Essay Stranger in the Village zur Topologie von White Privilege schrieb. Ihm ist heuer in Leukerbad nichts mehr beschert, als eine von Schimmel befallene Vitrine und etwas verschossenes Klebeband. Zwei übersetzte Gedichte und besagter Aufsatz in Originalsprache hängen da, über eine Wanderkarte vom Wallis im Massstab 1:50 000 gepappt – was eine traurige Geschichte.
Ich sitze im Café La Bohème und die Gravitation des Dorfs erdet mich. La Bohème schliesst um zwei Uhr, wird mir vom pomadigen Servicepersonal mitgeteilt, nachmittags, und rauchen darf man auch auf der Terrasse nicht. Ein einziges Versäumnis – aber gerade darum und diese Farben.
Es ist ein Bunker der Erinnerung hier, ein Phantasma verlorener Wirklichkeiten, es ist gefährlich scheissschön hier – ich muss weg.
Auf die Gemmi mit der Gondel, 2350 Meter über Meer – den Dünen entlang dort, an einer verlassenen Raumstation vorbei, hin zum Rande des Abgrunds. Im Dunst steht der Monte Rosa. Es ist fast windstill. Komisch, so exponiert die Stelle doch ist, als hätte jemand, noch mitten im Satz, Luft geholt und danach das Gespräch ungeklärter Dinge verlassen.
Eine Dohle landet neben einem Stuhl, der da scheinbar vor dem Nichts zu liegen kam und ich staune ob den Zufällen. Danach falte ich einen Papierflieger, beschrifte ihn mit: Olifr, auf bald, wie auch immer – gute Reise.
Und lasse ihn fliegen.