Postkarte aus Montreux: Meinertreu

(Wärs jemals von den Nazis besetzt worden, hätts auch mal so geheissen.)

Gruss aus dem Städtchen der immer wechselnden Lokale: Ein Gastbeitrag von Andrea Kaiser.

Wenn in diesem Text über Veränderungen gesprochen wird, werden die geschätzte Leserin und der geschätzte Leser hoffentlich nicht erwarten, eine endgültige Antwort darauf zu finden, ob Umwälzungen nun grundsätzlich etwas Gutes oder Schlechtes sind, gefolgt von zwangsläufig abstrusen Gedankengängen, um die eine oder andere These zu erhärten.

Die älteren Zeitgenossen stehen im Verdacht, dem Wandel eher skeptisch gegenüberzustehen, obwohl sich bei ihnen eine Fülle bereits bewältigter Modifikationen aufgehäuft hat, die eine gewisse Übung im Umdenken veranlassen sollte. Vielleicht aber haben sie auch nur die Schnauze voll und möchten endlich Ruhe im Karton haben und die Welt, die sich ihnen beim Erwachsenwerden präsentierte, unverändert vorfinden.

Montreux: Das Reich der Reichen, der Schoss der Schönen. Montreux – das ist die Schweizer Riviera, das ist ein Fünfsternehotel (seit ein paar Texte von mir auf KSB veröffentlicht worden sind, kann ichs mir leisten), das ist die Promenade, die zum Château Chillon führt – und das ist ein gutes Exempel für Veränderungen.

Selten findet man einen Ort, in dem sich auf engstem Raum die verschiedensten Bauwerke aus unterschiedlichen Epochen ineinanderverzahnen. Völlig hemmungslos werden Glasbetonklötze und Einweggebäude in eine Reihe Sandsteinhäuser gezwängt. Mitten im Herzen des Ortes gabs mal das «Hôtel de Londres», eine viktorianische Preziose mit Umschwung und Tiefstpreisen, die in den achtziger Jahren abgerissen und durch ein reizloses Gebilde in blau mit Ascenseur public ersetzt worden ist; mittlerweile ist es zur modernen Ruine verkommen und wird demnächst Schauplatz einer weiteren Baustelle.

Die Ladenlokale wechseln quasi permanent, ein neuer Besitzer versucht sich mit einer anderen, zumeist nicht sonderlich originellen Idee und gibt nach wenigen Monaten auf, um dem nächsten Optimisten Platz zu machen. Das kann einem habituellen Montreux-Besucher, der hier seit Jahren alle paar Monate Ruhe, Abwechslung, Erholung, Trubel oder auch alles zusammen sucht, auch mal wehtun. Der legendäre Pub «White Horse» beispielsweise war schon seit längerer Zeit geschlossen und wies nur eine Baustelle auf, eine Zahnlücke im merkantilen Gebiss der Hauptstrasse. In diesem Ausschank liess sich in den siebziger Jahren Rick Wakeman volllaufen, derweil ein kilometerlanges Kabel von seinem Studio in Glion zur Orgel in der katholischen Kirche in Montreux verlegt wurde. Nun hat sich hier ein chinesisches Etablissement namens «Lucky» eingenistet, das sogar zu Stosszeiten leergefegt ist, während alle anderen Wirtshäuser am Boulevard vollgepfercht sind.

Nachmittag: Entlang der dank Corona scheichfreien Seepromenade ist Tschechows Dame mit dem Hündchen allgegenwärtig; die Variationen beschränken sich auf die Farben ihres Kleides und der des Hundemäntelchens. Überhaupt lungern in Montreux seit dem Mauerfall verdächtig viele aufgebrezelte Russinnen herum.

Auf halbem Weg zum Schloss steht das Denkmal für Carl Gustaf Emil Mannerheim. Ungerührt, unbeirrt und unbefleckt, von keinem Bildersturm drangsaliert. Immerhin war Mannerheim der «blutige Baron», der in Finnland Zehntausende Bolschewiken und deren Angehörige, darunter auch Kinder, in Konzentrationslager stecken liess.

Übrigens stelle ich fest, dass Möwen nicht schreien, sondern hupen. Touristen lassen sich vom Partner in immer derselben Haltung ablichten, selber chronisches Leitmotiv, als gäbe es kein Bildbearbeitungsprogramm für abenteuerliche, Reiselust vortäuschende Hintergründe.

Das erinnert mich an die Kenianerin, die vor Jahren Internetberühmtheit erlangte, weil sie, ihren Heimatort nie verlassend, ihr Konterfei in offensichtlich ungeschickter Weise auf Bilder von Sehenswürdigkeiten unseres Planeten klebte. Das darauffolgende globale Mitgefühl mündete in ein Crowdfunding, das ihr dann die entsprechenden Reisen in der realen Welt aufzwang. Ich denke immer noch, dass sie sich dabei unwohl fühlte und lieber zuhause geblieben wäre bei ihrem Bildbearbeitungsprogramm.

Im «Palais Oriental» verleihen die Schutzmasken dem vorwiegend weiblichen Personal zusätzlich einen morgenländischen Hauch. Aber der Café turc wird dort nicht mehr traditionell mit Honig gesüsst, sondern mit Kristallzucker, wahrscheinlich aus dem profanen Aarberg.

Weiter oben ein Salon de beauté, bezeichnenderweise mit dem Unendlichkeitssymbol als Signet; wir armen Menschen altern von Beginn an, fühlen uns unattraktiv, werden von der Zeit zermalmt und möchten doch ewig gleichbleibend jung und schön sein.

Abend: Mein Geist mag halbwegs aufgeschlossen sein, mein Gaumen jedoch ist stockkonservativ. Asiatisches Essen liegt mir nur gelegentlich, meist habe ich Appetit auf gutbürgerlich Süd- bis Mitteleuropäisches; und damit wirds eng in diesem Städtchen. Das «Bavaria» in der Nähe des Kasinos war (Obacht! Vergangenheitsform!) ein edles Traditionsrestaurant, in dem glücklicherweise trotz des Namens französisch und nicht etwa bajuwarisch gesprochen wurde. In diesem noblen Restaurant kam es auch mal vor, ich erinnere mich, dass ein Kellner einen sehr betagten, auf unsicheren Beinen zitternden Gast nach seinem Abendmahl bis nach Hause begleitete. Zu meinem Schrecken befindet sich hier neu ein Lokal namens «BiS» (dessen graphisch hochoriginelles «i» mit handelsüblicher Tastatur nicht wiedergegeben werden kann), das schon mal als Kontrast Plastikstühle und -tische aufweist. Ein andermal vielleicht.

Die gute Pizzeria im oberen Teil des Ortes hat sich schon vor längerer Zeit in einen kulinarischen Kaschmir-Tempel verwandelt, die untere, in einem Seitengässchen gut vor Touristen versteckt, musste einem Gasthof mit libanesischen Spezialitäten weichen. Die letzte italienische Bastion ist das «Molino» am See, das auch zu Coronazeiten so eng bestuhlt und betischt ist, dass ich keine Lust habe, beim Zersäbeln der Pizza dem Nachbarn den Mund mit dem Ellbogen abzuwischen.

Daher lenke ich meine Schritte in Richtung «Café du Globe». Dieses Etablissement mit seiner altbackenen Holzeinrichtung schien keine Touristen anzulocken, sondern war Treffpunkt für wettwütige Einheimische (unaufhörlich flackerten auf mehreren Bildschirmen Rennpferde durchs Grün), wirkte etwas abgewirtschaftet, aber servierte dem hungrigen Gast sagenhaftes «Coquelet au Vin». Anhand der Vergangenheitsform wirst du schon bemerkt haben, dass auch diese Kaschemme Opfer des Zahns der Zeit geworden ist. Neu heisst der Laden «Les Boucaniers» und bietet nebst einer Unmenge Biersorten nur Tapas und Burger an. In einem Anfall von Abenteuerlust und Selbstverachtung setze ich mich dennoch hin und bestelle einen «Forest Burger»; dieser erweist sich als ein unappetitlicher zwischen zwei zerbröselnden Pappscheiben eingeklemmten Fettklumpen, der in seiner Ungeniessbarkeit ein Fall für das Unesco-Weltkulturerbe sein könnte.

Späterer Abend: Das Mayfair lädt mich zum Verweilen ein und zu einem Bier. Diese Kneipe ist ein Treffpunkt der Shishapaffer bei elender Musik, doch voraushörend habe ich meine eigene Musikanlage dabei. Sogar dieses beflissentlich Wohlstand ausstrahlende Städtchen hat seinen Dorfirren, der auf die Strasse hüpft und in Kauerstellung vorbeisausende Fahrzeuge mit Kung-Fu-Gebärden beschwört. Bei grösseren Autolücken stellt er sich an der Bushaltestelle hinter Wartende und lenkt ihre Bewegungen, als wären es Marionetten mit unsichtbaren Fäden, die zu ihrem Puppenspieler führen. In seiner Vorstellung gelingt ihm das sicherlich auch. Vielleicht gibts nur ihn als einzige Entität im Universum und wenn ich zu diesem Verdacht gelange, ist das wahrscheinlich ein Fall von Exosolipsismus. Sowas kann schon mal vorkommen bei empathischen Egozentrikern.

Nacht: Auf einer Parkbank betrachte ich den eingequetschten See und lausche den Schwanengesängen der Kinder Gottes. Obzwar ich mich oft in dieser Siedlung für ein paar Tage aufhalte, kenne ich hier keine Menschenseele und bin auf mich selber zurückgeworfen.

Der Freddy Mercury posiert nachts unumschwärmt gegen den See, tagsüber ist er immer von einer Menschenmenge umringt. Irgendwann, in fünfzig Jahren oder so, werden die Leute etwas über Mercury herausfinden, das uns heute unbedenklich erscheint, in der Zukunft aber als saumässig inkorrekt gelten wird. Vielleicht der Schnurrbart.

Alles wird hier mit Musik im Allgemeinen und mit Farrokh Bulsara im Speziellen beworben. Es gibt sogar eine Pharmacie du Jazz – wie habe ich mir das vorzustellen? Akzentuierte Arznei, synkopische Schmerzmittel, atonale Allergiehemmer, binäres Rhythmus-Rizinusöl, Kontrapunkt-Kapseln, Glissando-Globuli?

Auf dem Rückweg ins Hotel schaue ich noch bei Nabokov vorbei, dessen Figur zu meiner Überraschung und Befriedigung unverschmiert dahockt. Das gibt mir das Gefühl, dass es Grosses, Unvergängliches gibt, wenn auch nur in der Vorstellung meines zeitlich beschränkten Daseins.