Mit Sense und Feldschlössli im Berner Oberland: Ein Gastbeitrag von Tim Kummer.
Die Spitze meiner Sense sticht immer wieder in den Boden. Regen benetzt das Gesicht und macht das Gras schwer, Tropfen sammeln sich in den Härchen meines Wollpullovers. Mähen soll gelernt sein. Zeitweise fühlt es sich an, als versuchte ich mit einer Nagelschere eine Glatze zu schneiden.
Weisse Schwaden ziehen über den Grat. Wenn es nicht so neblig wäre, würde man bis zum Matterhorn sehen. Heimat, sagt Aschi mit dem Feldschlössli in der Hand, und dass man hier oben kein Wasser trinkt.
Ich bin bei Leander und Brigitte auf der Alp. Mit der Milch von drei Kühen machen sie Käse, es hat Hühner und Schweine. Zweihundert Meter weiter oben weidet eine grosse Schafherde, bewacht von zwei riesigen, weissen Hunden. Die Alpwirtschaften, welche nur zu Fuss erreichbar sind, liegen im Simmental, an der Grenze zu Fribourg.
Wir heuen wild an steilen Hängen. Wenn alles gut kommt, fährt das Heu in ein paar Tagen an Stahlseilen zum Stall. Dieser wird nur gebraucht, wenn es lange und stark schneit, was auch im August keine Seltenheit ist.
Um 05:15 schäle ich mich aus meinem Schlafsack, kurz darauf treiben wir die Kühe mit lauten Rufen in den Stall. Alle Kühe sind schon angebunden zum Melken, da kommt Amelie, die einzige gehörnte, wie immer als letzte und mit einem gewissen Stolz, durch das hölzerne Tor.
Im Kupferkessel erhitzt die Milch. Der Rauch füllt Küche und Lungen, die Augen tränen und die Nase läuft. Ich schwitze den Rest der Prosciutto-Fertigpizza vom Vortag aus. Radio Rabe plärrt aus den Lautsprechern. Am Ende des Tages verstauen wir einen grossen Alpkäse im Käsekeller.
Später liege ich mit einer Haschzigarette im Hotpot. Ich bin mir das lange Arbeiten noch nicht gewöhnt und geniesse den Moment für mich. Sauber wird man hier aber nicht – Kot, Schweiss, Dreck und allgegenwärtig der Geruch von Rauch.
Wenn Nähe da ist, sind Zeit und Distanz unbedeutend, schreibt Pia Solèr, Schafhirtin und Schriftstellerin. In der Alphütte finde ich ihr Buch. Auf hundert Seiten schreibt sie Gedanken und Erlebnisse von ihrer Zeit in den Bergen, den Tieren, den Bekanntschaften und der Einsamkeit auf. Ein bisschen Paulo Coelho, aber nicht schlimm, der Kopf ist müde und freut sich ab den schönen Geschichten.
Meist ist man alleine hier oben. Manchmal kommen Wandernde oder die Bäuer*innen vom Tal. Für Internet und Anrufe läuft man zu Aschi oder zum Schneefeld. Die Wege sind steil und die Arbeit hart. Doch die Intensität schafft eine unmittelbare Nähe zu sich selbst und den anderen. Leander hat vor ein paar Wochen auf einer kleinen Bühne hinter der Alphütte mit seiner Gitarre ein Konzert gespielt und Lieder gesungen. Ein knappes Dutzend kam zusammen und durchbrach die Einsamkeit.
Akka bellt mich an. Die junge Herdenschutzhündin ist nervös – wir wollen ein verletztes Schaf pflegen. Das Schaf hat sich von der Herde abgesondert und ist weit unten bei den Felshängen. Wir nähern uns, es rennt an mir vorbei, Leander kriegt es zu fassen und wird noch zwei Meter mitgezogen. Blut tritt aus dem Euter, lange wird es wohl nicht überleben.
Die Berge, die Natur, die Tiere. Wie wunderschön das alles ist, gehört zum Narrativ der Schweiz. Mein Freund bekommt hier oben für das Sennen etwa drei Franken die Stunde. Die Ausbeutung von Mensch und Tier wird in Kauf genommen. Die Idylle steckt voller Widersprüche, manchmal erscheinen sie hier ganz klar.
Das Wetter hat doch nicht so mitgemacht, wie wir wollten. Das Heu ist noch zu nass um es in den Stall zu bringen. Wir nehmen einen Schluck vom selbstgebrannten Williams, dann packe ich meinen Rucksack und stapfe den steilen Weg zurück zu überfüllten SBB-Zügen und Schutzmasken.