Wer nicht schlafen kann, lernt mit der Zeit einige Dinge über die Begebenheiten an der Kippe zum Tag, wenn die Klarheit des Dunkels durch Licht verwischt wird und die Luft eine Unfarbe annimmt. Dass Krähen immer viermal in Folge schreien zum Beispiel und sie oft nicht alleine unterwegs sind. Der Mond ist zu dieser Stunde noch nicht ausgeknipst, der älteste Fernseher der Welt, wie Nam June Paik einmal meinte: Man kann ihn schon lange anschauen.
Es ist im Grunde und aus Freundlichkeit anzunehmen beziehungsweise zu hoffen, dass Luzius Schuler nachts schlafen kann. Aber er will es offenbar nicht immer: Schliesslich klingt Ton nachts anders als tagsüber, so lotet er das aus. Sein Piano lässt er dabei alle Geräusche machen, das es nun einmal machen muss, um zu klingen; darum das Rascheln, das Geklacker. Tagsüber, da betrachtet er die Stadt.
Die Stadt, das ist Paris. Ein halbes Jahr hat Schuler, sonst in Bern, da verbracht. Und Paris, das sind die Hochhäuser am Rand, ihre Fenster aufgetürmt, bis man den Himmel nicht mehr sieht, das ist der Himmel, der sich drin spiegelt; das sind Lastwagen und Autobrücken und leere Plätze. Viele Bäume, einige Menschen, einige Möwen.
Man stellt sich also vor, wie Luzius Schuler kurz vor Morgengrauen sein Klavier zumacht, sich eine Jacke überwirft und mit einem Becher Kaffee in der Hand seine Wohnung verlässt. Wie er sich alles sehr genau ansieht, und weil das Laub über dem Boden zittert, denkt er sich: Laub, so könnte dieses Lied vielleicht heissen. Vielleicht ist es auch nur das Instrument, das weiterspielt in seinem Kopf. Ein langsames Grosswerden, oft leise und immer dringlich, Grollen und Nebel gleichzeitig, über dessen organische Struktur einige digitale Lasuren gestrichen wurden. Es ist auch ein Gegenentwurf zum Zuckerguss, der ein Yann Tiersen vor einigen Jahren über die gleiche Stadt goss, der weniger Sinn hatte für das Wacklige und das Suchende. Luzius läuft und raucht, trinkt langsam seinen Kaffee, er schaut und hört, während es heller wird.
So ist das oder vielleicht nicht. Womöglich ist das alles nur eine Wolke, womöglich träumt er auch, der Schuler. Yannick Mosimann hat er dann jedenfalls auf Spaziergänge mitgenommen, das ist verbrieft; der hat Paris auch gesehen, seinen weichen Blick darauf geworfen. Hat die Stadt so grobkörnig flimmrig aufgenommen, dass man meinen könnte, sie sei vielleicht tatsächlich von einem durchaus engagierten Pointillisten gemalt.
Nam June Paik übrigens hat einen Neffen, dessen Karriere am Klavier vorzeitig beendet wurde: Sein Instrument hat der Onkel für eine Performance komplett zerstört. Das aber ist eine andere Geschichte.
«Laub» erscheint auf «Moon is the oldest TV», Luzius Schulers Debüt-Soloalbum. Es wird am 18. September bei Ronin Rhythm veröffentlicht.
Rec Out ist da, wo du am Pult den Cinch-Stecker einstöpselst, damit was klingt am Jack-Ende. Bei KSB heisst Rec Out regelmässig Schreiben zu naheliegender Musik.