Rettet die Kritik? Vanguard!

Tollen Text gelesen von Latour, kürzlich. In Why Has Critique Run out of Steam? stellte der alte Held der (Wissenschafts)Kritik schon 2003 ein paar ungemein aktuelle Fragen:

There is no sure ground even for criticism. Isn’t this what criticism intended to say: that there is no sure ground anywhere? But what does it mean when this lack of sure ground is taken away from us by the worst possible fellows as an argument against the things we cherish?

Es geht da um den Umgang mit Wahrheiten, um Verschwörungstheorien und den Horror des Intellektuellen, wenn er merkt, dass seine besten Werkzeuge nicht etwa die Wirkung verlieren, sondern – viel schlimmer – von den falschen Leuten zweckentfremdet werden. Ziemlich hellsichtig, wenn man an Fakenews-Fabriken und die alltägliche Vernebelung von Fakten denkt. Es ist letztlich eine Krise der Intellektualität, die Latour hier diagnostiziert. Ist ihr etwa endgültig der Schnauf ausgegangen?

It has been a long time, after all, since intellectuals were in the vanguard. Indeed, it has been a long time since the very notion of the avant-garde—the proletariat, the artistic—passed away, pushed aside by other forces, moved to the rear guard, or maybe lumped with the baggage train. We are still able to go through the motions of a critical avant-garde, but is not the spirit gone?

Daran musste man denken, als gestern eine tolle Literaturredakteurin auf Facebook ihren Rausschmiss bekannt machte und Simone Meier als Reaktion darauf eine kleine Arithmetik der Literaturkritik in der Schweiz anstellte:

Übrig bleiben also noch genau zwei Herren, deren Rezensionsbudget auch kontinuierlich runtergefahren wird, nämlich in den Tamedia-Titeln und in der NZZ.

Nicht lange her hatte übrigens Charles Lewinsky in der NZZ am Sonntag Rettet die Kritiker! gerufen. Hmm, alte Männer überall.

So is this it? Nein, natürlich nicht. Die Kritik findet noch in den Feuilletons statt, aber nicht mehr nur. Die Intellektuellen müssen von sich hören lassen, auf Social Media, in der Öffentlichkeit, auf Podien und in digitalen Hinterzimmern. Wir sind noch hier, und die Kritik ist dringlich wie eh und je. Bloss muss sie klug genug sein, ihre Methoden und Mittel immer wieder den Umständen anzupassen – das war auch Latour klar:

This does not mean […] that we were wrong, but simply that history changes quickly and that there is no greater intellectual crime than to address with the equipment of an older period the challenges of the present one.

Let’s do it.