Röhren nach Begehren

Samstagabend in Fribourg, Belluard Bollwerk Festival für zeitgenössische und darstellende Kunst: «Bruler dans la ville», das transdisziplinäres Stück von Simon Johannin & Jardin (France) – schreit uns an. Zentriert das Publikum im Stroboskopschatten der spätmittelalterlichen Kulisse vom grossen Bollwerk, das mit seinem halbrunden Innenhof und den Fachwerkbalken dem Globe Theatre in London und damit good old Shakespeare mahnt. Simon Johannin sieht aus wie Jean-Paul Gautier in orangenen Trainerhosen, wenn er liest. Seine Lyrik in knappen Sätzen gilt der Ruine; wir schreiben eine Zeit, da alles Urbane verdampft ist und alle Gemeinschaft sich erhängt hat an den Laternenpfosten der Boulevards, entlang derer längst die Gazellen grasen – wieder einmal Dystopie, pittoreske?

In die Textpausen spielt Jardin Fragmente von ambientem Techno oder macht Trap, singt, schraubt am Equipment, bombardiert das PA und die Leinwand. Ein Mensch in chrombeschlagenen Arbeiterstiefeln, Netzhemd und blonden Zöpfen, ein Gesicht wie von Giacometti geschnitzt. Viskosehüften und Lippen wie schockgefrorene Croissants. Verfallen, verharren, verlieben, verlieren, alles bietet sich jäh an. Jardins Performanz entwickelt eine seltsame Schwere, Gravitation, die in die Lücke zieht – die Ästhetik des Dazwischen? Eine Schichtung von Gleichzeitigkeit mittels barockem Bildersturm? Oder aber: wieder einmal Travestie?

Die beiden ziehen durch, die Narration auf der Suche, Simon sehnt sich nach einem Menschen, unter jedem Umstand, nicht unter Umständen. Der sozialen Apokalypse zum Trotz, auch wenn Glieder fehlen sollten, Arme abgesprengt, Beine benagt von Kannibalen. Ein Krüppel? Es ist ihm egal. Hauptsache ein Lebenszeichen. Und Jardin schreit, Jardin donnert, als über dem Bollwerk in Fribourg tatsächlich der Himmel bricht und das Gewitter uns unter die Arkaden oder ganz nahe an den Bühnenrand zwingt.

Und als es sich beruhigt hat steht da zum Schluss ein Hirsch, auf einer Kreuzung, unter ausgebrannten Ampeln, Augen wie Durchschusslöcher, inmitten der Stadt. Und röhrt, röhrt um einen Jäger, aber Jäger sind nicht mehr – was Simon Johannin und Jardin suchen, ist das Begehren.

Die Dystopie: gelöchert und entlarvt. Die Endzeitvorstellung als kulturpessimistischer Tagtraum, der von Verantwortung befreit? Absage – hier performen zwei leidenschaftliche Urbanist:innen, die romantisch bzw. antiromantisch verfahren (ergo: postromantisch?). Formal impertinent, risikoreich, körpervoll, versuchsverliebt und lodernd überzeugt von der Kraft der Ambivalenz. Vielleicht geht es im nächsten Stück ja um einen anderen Tagtraum, die Utopie – oder liefe es etwa auf dasselbe hinaus?

Das Belluard Bollwerk Festival, die 39. Edition, läuft noch bis und mit nächsten Samstag 2.7.