Der Nachmittag ist hell an diesem Donnerstag, der Himmel über der Neubrückstrasse ausgebrannt. Ich lehne an einem dünnen Baum; ein gerupftes Stofftier liegt über den Trümmern eines Abfallsacks – auch Füchse trifft das Pech und unter den Salzkrusten marmoriert liegt der Trottoirrand. Etwas weiter vorne stürzen die Strassen in einen weissen Krater. Neue Gänge für den Bahnhofbunker – Tunnelbaustelle Hirschenpark, als wäre ein Reaktor explodiert. Unter einer Riesentanne stand da einst meine liebste Sonnenbank. Da schaut an – der Schwab taucht endlich auf, vom Bierhübeli her, aus dem Licht und muss die Augen zusammenkneifen. Sagt Hallo und zieht dabei, zeichnet einen blauen Faden in die Luft und lässt den Glimmstängel fallen, giftige Seide, der Rauch, sofort verblasen – die Bise schlitzt Spalten in unsere Halstücher. Ungnädig ist es, aber immerhin, abgemacht haben wir hier für ein Ja zum Leben. Denn an der Nummer 82, hiess es von den Eingeborenen, kann man sich vom Feinsten neu besohlen lassen.
Christina Bühlers Schuhservice wohnt da, unter diesem wahnsinnigen Blockrand von mindestens dem Volumen der halben Notre Dame, durch eine kleine Türe mit Rundbogen gehts hinein, in das ausgeleuchtet hohle Innere einer garagengrossen Baumnuss, denkt man, so behaglich ist der Laden. Wir betreten ihn wie dünnes Eis – nicht leer ist es hier und nicht überstellt, sondern organisch möbliert von dem, was es da so braucht. Bürsten und Sattelfettdosen, Senkel, Kartonschachteln, die Leisten versteht sich, holzig wie der Boden; da steht ein einzelner Stuhl, alter Embru, damit sich die Kunden recht die Schuhe schnüren können. Frau Bühler schaut von hinten aus der Werkstatt auf, durch das Trennfenster in die Verkaufslaube, um zu sehen, was für Nasen gerade ihren Laden betreten haben. Sie begrüsst uns, schlohweisses Haar, guckt über den Rand ihrer Brille, verschränkte Arme, die linke Hand hält die Rechte am Gelenk, über einem Strickpulli, Farbe Eierschale. «Was kann ich für sie tun, junge Mannen?
Oha! Budapester, Derbyschuh mit Golflochung, sehr schön – sehr, sehr schön, rahmengenäht, schauen sie her, das sieht man dann nicht mehr aller Tage und wo haben sie die denn her? Aha ja, Brockenstube, Seeland? Bally, ganz klar, Uhrenindustrie, ganz wunderbar, ganz dandy, sehr gerne, es ist mir eine Freude so eine Arbeit – Sie tragen den zum Tanzen, nehme ich an? Wissen sie, sonst kommen mir hier zeitweilen ganz andere Gurken in die Hände.»
– der Schwab hat eben auch noch ein Paar dabei.
«Himmel, mein lieber Junge, auau – oje, schauen Sie, oha, kommen Sie, spüren Sie mit dem Finger hier, da ist kaum mehr was, papierdünn, und da, merken Sie das, mein Lieber, da ist nur noch das Nichts, ein Loch – aber was hatten sie dafür überhaupt mal gezahlt? Wissen Sie nicht mehr, ja, aber eben sehr bequem, schon klar, aber wissen Sie, das ist wie bei den Zähnen, wo nichts mehr ist, muss Neues her und früher kommen nächstes Mal auf jeden Fall und überhaupt: Sie müssen sich besser Sorge tragen, junger Mann.»
Und dann geht Christina nach hinten, mit je einem unserer Schnäbel, um das noch mit ihrer Lehrtochter zu besprechen, unter vier Augen und auch wir gucken uns an, vorne im Laden – auf der Theke das ungleiche Paar, links meine pikfeine Stelze im Lack und rechts Schwabs abgelederte schwarze Banane, die auch vom einfallenden, noch immer grellen Sonnenlicht nicht glänzen will. Mindestens vor dem inneren Auge sehen wir das Gleiche – mein Bally, lässig im Lehnstuhl, eine Kippe schmauchend, könnte das Kapital geschrieben haben, wohlgenährt vom Wachs und gehütet für das gebohnerte Parkett, grossartige Kapriolen ermöglichend und ein Handschmeichler auch, lässt sich gerne polieren. Während daneben, die gekrümmte Latsche, abgeschabt und fleckig, leprakrank, hat unten durch müssen, sicher 10’000 Kilometer lang, immer und immer wieder, durch die Strassen geprügelt, über den Asphalt. Hat sie aber auch nie gekümmert, zum Rauchen gabs höchstens bröseligen Drehtabak, zufrieden damit und zum Schreiben kam sie nicht, weil sie immer irgendwo gebraucht wurde, schaffen musste und dann schlafen musste, komatös unter einem Haufen wechselnder Artgenossen lag oder andere Probleme hatte, zu trocknen hatte beispielsweise, vom schwäbischen Fussschweiss oder der Nässe von der Gasse. Sie ist verlebt, die Sandale.
Frau Bühler bleibt jetzt hinten, schaut aber zu, Schutzheilige, während uns die Lehrtochter den Befund zu bestätigen hat. «Den Bally nehme ich natürlich mit Handkuss. Beim Anderen, ganz ehrlich, müssen wir von lebensverlängernden Massnahmen mangels vorhandener Substanz absehen. Klar könnte man, und wenn und aber oder vielleicht, aber nein, der Schuh ist durch und das muss man an einem gewissen Punkt einfach akzeptieren, loslassen können, hatte er denn nicht ein schönes Leben – für das Geld, das hier nötig wäre, findest du locker etwas Vergleichbares, das noch heil ist», sagt sie zum Schwab.
Weicher Dolchstoss, bleibt Dolchstoss – diese Abgeklärtheit, Frau Lehrtochter, wir möchten schon bitten. Wir sind Verdränger, ganz dem Schöngeistigen verschrieben, sieht man das nicht, Pragmatik triggert uns wie dieser eine Duft das Echo vom längst vergessen geglaubten Liebeskummer. Und so oder so habt ihr gut reden, könnt gar vergeben, Handwerkerinnen, wie ihr das dreht und wendet, legitimerweise, in euren wunderschönen Händen. Verführerisch dezidiert, mit dieser bestimmten Distanz zur eigenen Materie, distinguiert eben und entscheidungsfähig, ehrlich. Wer hat, dem wird gegeben, der schicke Tanztreter macht auch Freude anzufassen, währenddessen die Gurke – höchstens karitativ oder gegen viel mehr Geld, Liberalität als Luxus, aber höchstens selbst ist noch die Gewerkschaft und Abzocken ist gegen den Zunftstolz – ihr Schicksal ist also besiegelt. Uns schreits still aus der Brust.
Draussen wird der tote Teddybär jetzt von einer Krähe geschändet, immer und immer wieder hackt sie ihren Schnabel in diesen kleinen Stoffbauch. Aus seiner Realität gerissen, als ihn Elternhände in die Tonne traten, weil das Kind sich über ihm erbrochen hatte oder seit zwanzig Jahren vergessen in einer Schublade und ab in den Müll. Niemand hat ihm beim Gehen die Tatze gehalten. Du bist nicht mehr zu retten, längst überfällig, bist jetzt Abfall.
Hätte er sich wehren sollen – entscheidungsgewaltig, Privileg der belebten, sich selbst bewussten Materie. Da, wo an Schwabs Schuhe nicht mehr zu glauben ist, fällt hingegen alles hin. Ins Loch. Und wer am Rest noch festhalten kann, an der Galgenfrist, macht sich besser schleunigst auf die Socken an die Neubrückstrasse 82 und lasse sich wenigstens die Sohle retten. Und für alles andere müsst ihr nächstes Mal überhaupt einfach früher kommen.
Schuhservice Christina Bühler, Neubrückstrasse 82, geöffnet immer dienstags bis freitags 08:00 – 12:15, 13:30 – 17:15. Samstags 08:00 bis 12:15.