Scheinheiligkeit im wirklichsten Sinne: Der polnische Regisseur Jan Komasa erzählt davon in seinem aktuellen Film «Corpus Christi». Von Bad Boy Daniel – dem erdenschönen Bartosz Bielenia – der sich im Gefängnis läutert. Der auf Gott kommt, freikommt und dann ohne Weihe auf Priester spielt. Auf Teufel komm raus.
Oscar-nominiert als bester internationaler Spielfilm, ist diese Geschichte aber keine Anleitung zum Hochstapeln und auch keine Verklärung des Impostor-Syndroms à la «Catch Me If You Can», sondern eine Geschichte um Wahrheit ohne Demut. Jene Wahrheit, die sich so nur aus der radikalen Behauptung einer Sache entpuppen kann.
Daniel erhebt sich über seine Bestimmung, die für ihn in diesem konservativen Polen als vorbestrafter junger Erwachsener ohne Ausbildung, als mit Knastmalen Tätowierter, als Stigmatisierter direkt in die Misere weist. Ein Wegweiser dahin, wo nur die bitterste aller Vergegenwärtigungen noch wartet – verwirkt zu sein.
Ist nicht, sagt sich Daniel. Und findet sich plötzlich, nach der Haft und von Geltungsdrang und Zufällen befallen, vor einer versammelten Dorfgemeinde wieder. Oder Schicksal, wer weiss das schon so genau, es ist ein Wiederfinden in einem Plot um Schuld und Sühne und Vergebung. Tatsächlich klingt Dostojewski an, überzeichnet sicher, fast kitschig teilweise und von den Hoffnungen der Moderne befreit. Es ist denn eher das Motiv des Heimatfilms, der das Heil auf dem Dorf sucht, abseits des Urbanen, das hier zum Tragen kommt. Nur, dass im Film kein Idyll idealisiert wird und dass das Jetzt als hyperreale, horizontlose Realität einschlägt – so hart wie der Stiefel am Hinterkopf auf dem Bordstein bei «American History X».
In «Corpus Christi» wird dick aufgetragen. Ein glänzender Lack an Existenzphilosophie, wenn Daniel sein Wesen als Priester bestimmt, das nominelle Aufladen des Körpers im Filmtitel, als materialistische Notwendigkeit jeder weiterführenden Essenz. Die Deckkraft der Religion als Topos? Geschenkt.
Scharfe, entsättigte Bilder, die Schwermut der tiefen Farbtemperatur, etwas zu wenig Licht, dafür Blitze, auf charakterschwere Gesichter, harte Schnitte – Rausch, aufgerissene Pupillen, Fusstritte. Gewalt? Geschenkt.
Effekte haben die Oberhand, die Handlung ist zuweilen behelfsmässig, sprunghaft und fahrig; dem Ausdruck tut das keinen Abbruch. Und das Essentielle ist sowieso parabolisch: Ein verlorener Sohn kommt, Festgefahrenes aufzusprengen, die Charaktere mit sich selber zu konfrontieren. Das Elend kommt dabei auf den Punkt.
«Alles Gute geschieht nur durch die Not, das heisst die Freiwilligkeit, nicht durch den Zwang, das heisst die Nötigung», hat Ludwig Hohl mal geschrieben und dieser verzwickte Satz führt zum Kern dieses Dramas. Dass Daniel auch Gutes tut, in seiner Anmassung, die offenbar aus Leid heraus geschieht und ihn antreibt zum Handeln – ausser Frage. Sein Charisma schenkt ihm Anerkennung, seine Dreistigkeit, seine Abgründe; sein Wille zur Pfaffentracht. Die Gemeinde spiegelt sich darin und öffnet das Visier. Verdrängtes spitzelt erst und brodelt dann heraus, aus diesen Dorfbewohner*innen, die den Zugang zu Gott davor nur noch mechanisch pflegten, in Rüstung, knöchern, so wie zu sich selbst.
Gott ist Selbsterkenntnis.
Aber nur durch Daniels Nachahmung gelingt sie, die Spiegelung. Das Erlangen derselben Augenhöhe, die Nivellierung des Altars, nur durch diese Mimesis des Geweihten ist sie möglich, als performative Überhöhung des Modus vivendi eines jeden humanen Daseins: So tun als ob. Alle tun wir es ständig – als ob – als ob wir was wüssten, was könnten, als ob wir etwas würden (ausser Staub).
Daniels Unterwanderung der Kanzel ist gelungene Subversion. Am Ort, wo sonst nur göttlich legitimierte Instanz steht, flirrt der Schein am hellsten. Und wenn zum Schluss die Hüllen fallen, dann spätestens wird klar, was unserem kreatürlichen Dasein zeitlebens höchstens an Erlösung blüht.
Als Scheinheilige anerkannt zu werden.
Corpus Christi spielt noch bis nächsten Mittwoch 14.10. im Kino Rex.