Scheisse, eine uralte Symbiose

Am 27. Oktober eröffnet im Botanischen Garten Bern ein neues Gewächshaus. Das «Gondwanaland-Haus». Gondwana, der Grosskontinent, dominiert für 500 Millionen Jahre die südliche Hemisphäre der Erdkugel, bevor er vor 128 Millionen langsam auseinanderbricht. Bruchstücke sich davonmachen, Afrika entsteht, die Antarktis, Indien, Ozeanien und auch Südamerika sich davonschleichen. Gondwana, die uralte Landmasse, längst zersplittert, ein Monument geologischer und biologischer Entwicklung. Die Erde ist rund viereinhalb Milliarden Jahre alt und erst seit 0,06 Prozent dieser Zeit existiert der Mensch. «Wie absurd kurz der Ausschnitt unserer Wahrnehmung doch ist. Mit Pflanzen lässt sich das vermitteln, mit ihrer Geschichte gewissermassen auch die Langsamkeit entdecken.» Es ist Adrian Möhl, der mir das sagt, Botaniker und Hauptinitiator des Projekts Gondwanaland-Haus im Boga. «Es geht hier schon auch darum, ein Gefühl für die zeitlichen Verhältnisse der Erdgeschichte deutlich zu machen.» Es regnet gelangweilt, aber stetig, als wir uns an diesem Nachmittag im September treffen. «Und es geht um die Idee, mit Gewächsen der Südhemisphäre auch im Winter blühende Pflanzen zeigen zu können. Vielleicht dem «seasonal affective disorder» etwas entgegenzusetzten als schöner Nebeneffekt, der Depression der dunklen Jahreszeit.» Gleichzeitig sei diese Pflanzensammlung so auch ein Novum in der Schweiz. Adi – er hatte mir im Mailverkehr direkt das Du angeboten – Jahrgang 1971, ist von widerspenstigem Wuchs und gleicht einem Hagebuttenstrauch im Herbst. Er könnte auch Kletterer sein, eine Kletterrose. Ich bleibe sofort an seinen Lippen hängen, er sprüht vor Energie und hat dadurch auch etwas Zitteriges. Ich muss an das warme Luftknistern bei tiefhängenden Hochspannungsleitungen in Tessiner Alpentälern denken. Bald schon reden wir von Grundsätzlichem, der Faszination des Sammelns. Der Botanische Garten als Museum, Schaukasten wilder Früchte, domestiziert, eine Projektionsfläche für Exotismen, für Fernweh – die Romantik der bezwungenen Natur, gleichzeitig Symbol der aufklärerischen Übermacht. Das koloniale Erbe. «Es ist eine neue Zeit und auch dafür soll dieses Schauhaus stehen. Lange war hier das Laboratorium für Gentech der Uni, dann ein Kalthaus, der Öffentlichkeit unzugänglich. Es ist ein Glück, dass es nach zwanzig Jahren wieder so genutzt werden kann. Und bei zukünftigen Führungen soll hier definitiv auch sensibilisiert werden.» Adi sagt das bewusst vorwärtsgewandt, aber auch mit diplomatischer Zurückhaltung. Ich bringe so viel in Erfahrung: Seit der Boga vor zehn, zwölf Jahren fast einem Sparplan zum Opfer gefallen wäre – da ging es um Macht, die Rolle der Universität, Geld, es ging um Politik – ist auch intern viel passiert. Und der Garten gilt als gerettet. «Wir wollen ein lebendiges Museum sein. Gondwanaland gibt es nicht mehr. Man hätte die ursprünglichen Gewächse, wie man sie von Versteinerungen kennt, etwa nachtöpfern müssen, hätte man ein authentisches Bild von damals angestrebt. Mir geht es vielmehr darum, Sachen zu probieren und Entwicklung zu veranschaulichen.» Ich war schon den ganzen Sommer über immer wieder am Schauhaus vorbeigekommen und hatte beobachtet, wie die kleine Landschaft behutsam und kontinuierlich an Kontur gewann. Die Idee einer neuen alten Welt, wenn auch nur als Miniatur – sie hatte mich wie ein Gespenst verfolgt. Jetzt bin ich der erste Gast und kann die Sorgfalt förmlich riechen, die hier eingeflossen ist, in der Luft liegt und von sanften Windmaschinen zusätzlich verteilt wird. «Viele der Pflanzen gedeihen besser im Wind, davon musste ich die Gärtner erst überzeugen, diese Ventilatoren aufzuhängen. Aber die Wirkung ist unbestritten. Obwohl man gar nicht genau versteht, warum.» Adi zeigt dann auf einen Abschnitt im Beet, wo eine verkohlte Wurzel von der Grösse eines Rebstock-Strunks steht. «Auch Feuer ist eminent wichtig. Gerade für viele der Kapland-Arten.» Und wieder eine andere Historie: Man habe die Erde einst in sechs Florenreiche aufgeteilt – die gesamte nördliche Hemisphäre als eines davon – und dann gebe es diese Region am Kap von Südafrika, nur knapp doppelt so gross wie die Schweiz, die für sich ein eigenes Reich sei. Einfach, weil die Natur da punkto Artenvielfalt komplett durchgedreht ist. «Im Gewächshaus wiederum lassen sich einige dieser Arten aber nur ziehen, wenn man das Giesskannenwasser mit geräuchertem Löschpapier anreichert. Die Rauchpartikel sind der Schlüssel zu ihrem Wachstum.» Ich bin jetzt komplett unter dem Einfluss von Adis Hochdruckgebiet, sein Staunen an der eigenen Disziplin steckt an: Geschichten von Gestaltenwandlern, den Proteus-Pflanzen, von zwitterigen Blüten und Kooperationen – zärtlich vollbehaarte Gewächse, sonnentauähnlich, die selber zwar nicht fressen können, gefangene Kleinstinsekten aber einer speziellen Wanze zum Verzehr anbieten, um sich im Tausch von dieser düngen zu lassen. Scheisse, eine uralte Symbiose. Wir lachen, als gerade eine Frau das Schauhaus betreten will. «Entschuldigung, hier ist bist zur offiziellen Eröffnung Ende Oktober noch zu», sagt Adi, «Ich hoffe, Sie verstehen – ich möchte da alle gleich behandeln.» Nur die Pflanzen, die dürfen natürlich schon vorher da gewesen sein.

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Oktoberausgabe des KSB Kulturmagazins.