Schlafende Riesen auf Pluto entdeckt

Weil Verelendungslogik nie zu einer guten Revolution führen wird: Der Verein Rêves sûrs ermöglicht es Jugendlichen, einfach sicher zu schlafen.

Verabredet zum Gespräch über die neue Notschlafstelle für junge Menschen,
«Pluto», es ist Ende Oktober und das digitale Thermometer unter dem Eisenbahnviadukt zeigt 22 Grad Celsius an. Ich sitze im 21er-Bus Richtung Bremgarten, die Scheiben sind beschlagen, weil die Leute viel zu dicke Jacken tragen. Es riecht nach Weleda und Borotalco. Über dem Dunst leuchtet ein kleiner Bildschirm mit Pressemitteilungen: «Kantonale Jugend- und Kinderpsychiatrie am Anschlag», lese ich, während hinter mir zwei Sportstudenten taktisches Schlafen verhandeln. «Luzides Träumen, das kann man steuern – ein Traumtagebuch führen, sich ein Schlafmantra ausdenken und im Wachzustand Reality-Checks durchführen. So kannst du auch Ruhephasen nutzen, weil du im Klartraum entscheidungsfähig bleibst.»

Dem Schicksal Schnippchen schlagen – Sport müsste man studieren. In Bern gibt es ungefähr vierzig sogenannte Roughsleepers, Obdachlose, die irgendwo im Freien schlafen. Dazu kommen die insgesamt ungefähr fünfzig Betten für Menschen ohne festen Sitz vom Passantenheim der Heilsarmee und dem Sleeper, der Notschlafstelle des Vereins «Dead End», wie mich die Kirchliche Gassenarbeit informiert. Und dann ist da natürlich eine Dunkelziffer, Personen die mal hier, mal dort pennen, auf Polstergruppen und Gästematratzen, in Wohnheimen, bei Freund:innen oder Bekanntschaften. Gerade junge Menschen – für die das Hilfsangebot im Gassenmilieu nicht gerade niederschwellig ist und die in Notsituationen kein Netzwerk kennen, fehlt es an Krisenangeboten.

Die bestehenden Angebote sind fast ausschliesslich institutionell und aktuell komplett überlastet. Vor allem die Akutstationen, was die Betreuung weniger dringlicher Fälle verschleppt. «Kinder und Jugendliche, die nicht schwer gefährdet sind, sehen sich momentan Wartezeiten von bis zu einem Jahr konfrontiert, nur schon zur Therapieabklärung», sagte Michael Kaess, Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der UPD Bern, Anfang Jahr in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen. Die Gründe dafür – ein Labyrinth im Zeitgeist mit roten Fäden weit über die Pandemie hinaus. Für die Pflege auf den psychiatrischen Diensten im Resultat aber schlicht prekäre Arbeitsrealität. Ein akuter Mangel an Fachpersonal, der zu Selbstausbeutung führt. Zu Aufopferung, Abbrennen und Abstumpfung.

Erstmal trockene Socken

«Als Jugendlicher in einer Notsituation willst du an so einem Ort nicht landen. Und sowieso, wenn du als junger Mensch von zuhause abhaust oder gar kein richtiges hast, weil du beispielsweise als geflüchtete Person in der Schweiz oder auf Kurve bist, aus einer Wohninstitution ausgebüxt – dann geht es oft gerade darum, sich der Bürokratie der Institution zu entziehen, nur schon diesen Aufnahmeverfahren. Oder aus Loyalitätskonflikten – die Kids wollen ihre Eltern nicht anschwärzen, haben manchmal auch Angst davor.» Das sagt mir Nora Hunziker, Gründungs- und Vorstandsmitglied sowie Social-Media-Managerin des Verein Rêves sûrs – Sichere Träume, der im Mai 2022 unter dem Namen Pluto eine Notschlafstelle für junge Menschen zwischen 14 und 23 Jahren eröffnet hat. «Pluto will eine Anlaufstelle sein, ein Ort zum Ankommen, der von keiner Angst überschattet ist. Wo du dich nicht als erstes ausweisen musst und wo du warm empfangen wirst. Darum brennt hier auch keine Neonröhre, sondern es hängen Lichterketten im Eingangsbereich. Und dann werden dir vielleicht erstmals trockene Socken ausgehändigt – Ankommen macht so viel aus. Schon da beginnt das Weiterschauen.»

Pluto soll anwaltschaftlich, akzeptierend und transparent sein – kantonale Pionierarbeit auf dem Gebiet. Pluto liegt etwas ausserhalb der Stadt. Hinter der Prärie Viererfeld, 21er-Bushaltestelle Äussere Enge und dann das Strässchen hoch, vis-àvis der Schrebergärten, in einer Immobilie aus den fünfziger Jahren, die fast wie das Häuschen einer Goldmine anmutet, gut verschanzt neben dem Werkhof einer kleinen Baubude und hinter dicken Lärmschutzwänden der Autobahn A1. «Es ist ein optimaler Standort, denn zu viel Durchgang kann stigmatisierend sein für Hilfesuchende. Und dann haben wir hier ein ganzes Haus, es hat Platz, ist eigenständig und trotzdem gut mit dem ÖV, eigentlich auch zu Fuss erreichbar. Die Immobilien Stadt Bern haben uns gut unterstützt und so hat sich das ergeben. Es war ein grosses Mitdenken aus der Bevölkerung spürbar. Das hat Mut gemacht. Und ab der ersten Woche waren von unseren sechs Betten schon einige belegt.»

Hunziker arbeitet sonst für die Kirchliche Gassenarbeit Bern, ist an der Fachhochschule Nordwestschweiz im Masterstudiengang der Sozialen Arbeit und war einige Jahre im Jugendtreff im Dachstock aktiv. Seither ist sie immer wieder mit jungen Menschen in Kontakt, die kurzfristig nach Übernachtungsmöglichkeiten ausserhalb des Familiensystems suchen. Deren Themen häufig ähnliche sind – Flucht vor häuslicher Gewalt, Traumata, Neurodivergenz oder das bekannte Lied von Erwartungs- und Leistungsdruck unter dem Appell der Selbstverantwortung. «Im Gespräch mit Sozial- und Jugendarbeiter:innen, auch aus staatlichen Betrieben, habe ich gemerkt, dass es auch da Leute gibt, die diese Thematik direkt sehen und die sich Alternativen mit ganz tiefen Hürden wünschen.» Aus einem breiten Pool an Menschen entstand 2019 so die Initiative für den Verein. Heute funktioniert Rêves sûrs auf zwei Ebenen, der ehrenamtlichen Vereinsarbeit, etwa für die Geldbeschaffung und der bezahlten für die professionelle Arbeit auf der Notschlafstelle Pluto. «Uns ist diese Trennung wichtig. Wer für die Notschlafstelle arbeitet, muss sich nicht mit dem Vereinskram aufhalten und umgekehrt. Interessenkonflikte zu vermeiden und Vertraulichkeit sind wichtige Grundsätze. Kids, die zu Pluto kommen, sollen wissen, dass wir unparteilich sind und unsere Hilfe auf ihrer Freiwilligkeit basiert.»

Sich gegenseitig füttern

Es ist ein aufgeräumtes Wirkungsprinzip, das Nora mir ausbreitet, gewerkschaftlich und erfrischend unaufgeregt antiautoritär. Wir sitzen zum Reden an der Feuerstelle im Garten hinter dem Haus, der Rasen ist gemäht und ein Kiesweg in bester Ordnung. Pluto ist leer an diesem Nachmittag, die Leute müssen jeweils nach dem Frühstück wieder raus. «Das wäre sicher ein Zukunftswunsch, dass wir mehr Tagesberatung oder auch Pflege anbieten könnten, aber wir wollen jetzt erstmal unsere selbsterklärte Pilotphase von drei Jahren mit dem Notschlafen als Angebot auf eigenen Beinen abschliessen.» Rêves sûrs finanziert sich ausschliesslich über Stiftungsgelder und Spenden von Privatpersonen. Der Verein unterliegt somit nicht dem lähmenden Mandat des Staates. Institutionen, die von der öffentlichen Hand finanziert werden, haben zu rentieren. Sie müssen Auslastung vorweisen, damit das Geld weiter fliesst. Das führt unter anderem dazu, dass ungünstig platzierte Personen an Orten hängen bleiben, anstatt im Sinne der Besserung an passendere Stellen weitervermittelt zu werden. Weil eine Station die Betten belegt halten muss und trotz übergrosser Nachfrage Ausfall und Fluktuation fürchtet. «Löhne wollen bezahlt bleiben und Chefpositionen in diesem System tun sich schwer damit, die Hand zu beissen, die sie füttert», das weiss Nora aus ihrem Berufsfeld und fügt nach kurzem Innehalten an: «Wir sollten uns lieber gegenseitig füttern.»

Darüber diskutieren wir noch lange im Garten, über die eigenen Ideale und ihre Paradoxe unter Sachzwängen. Ob ein Projekt wie Pluto nicht auch den politischen Druck verringert, der sich aus agitatorischer Sicht doch gerade auf dieser Ebene aufbauen sollte. Wenn sich Vereine und Private gesellschaftlicher Verantwortungen annehmen und somit strukturerhaltend wirken, bezahlt durch das ebenso strukturerhaltende Programm der Wohltätigkeit. Nora? «Ja, aber für mich ist trotzdem ganz klar: Verelendungslogik wird nie zu einer guten Revolution führen. Individuelle Potentiale sind schlafende Riesen, die vorher geweckt werden müssen. Und dafür muss man erstmal in Sicherheit schlafen können.»

Pluto ist auf Unterstützung angewiesen und um jede Spende dankbar.
Die Kosten einer Übernachtung mit Betreuung schätzt der Verein auf etwa 180.-.

Verein Rêves sûrs – Sichere Träume,
Studerstrasse 44,3004 Bern,
info@sichere-traeume.ch,
IBAN: CH20 0900 0000 1545 8005 3

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Dezemberausgabe des KSB Kulturmagazins.