Sie hat Bock auf echte Männer

Ich hatte die Schnauze voll von «dem» Jura: von freigelassenen Pferden und virilen Zentauren, halb Urjurassier, halb Ross, Fossile mit wehenden Mähnen, die auf ver­gifteten Musikfestivals im Gras herumstaken. Wo die Uhr immer beer‘o‘clock schlägt und die Milch fleissig aus den Brüsten der grünen Fee spritzt – und wie die Fahnen wehen an jedem Haus. Ich habe zu oft gehört von deinen Freund:innen mit den ergriffenen Augen, die sich da oben selbst versorgt haben und nicht wissen wollen, wie sie die Landschaft zwischen La Chaux-de-Fonds und Delémont doch ganz sanft zu kolonisieren im Begriff sind.

Aber, aber – es folgt eine gar nicht nur bittere Szene über Cervelat-Chauvinismus und den Feminismus im Feld, darüber, wieso es Sinn macht, Leute mit Plastikbechern zu bewerfen, also das Chaos, das wir wollen müssen und eigentlich: mal wieder die schönste Nacht deines Lebens. Natürlich im Jura. Wo Jurassier:innen stolz sind, aus dem Jura zu sein. Und Nicht-Jurassier:innen stolz sind, im Jura zu sein. Es tut einem dann fast ein bisschen Leid um all die anderen Ränder im Land, die Emmentaler und Toggenburgerinnen und sogar ums Wallis. Kurz: Das Städtische ist dem Jurassischen sehr wohlgesinnt, im Jura lodert Anarchie. Ab Frinvillier gibts die glänzenden Augen wie automatisch. Es geht um Erwartungen. Stereotypie, klar und wahr wie die Geschichte vom pissgelben Enzianlikör, der den Bauern so günstig die Kehlen runtergeflossen sei wie ein Bach und deshalb noch heute nach der Schüss heisst. Jedenfalls kann ein Käferfest wie zum Beispiel dieses liebliche Musikfestival im Kanton Jura, nahe La Chaux-de-Fonds und doch ganz ab vom Schuss, mit den besten Erwartungen begangen werden. Mit dem Besten aus dem Schlechten sozusagen, oder: begünstigt vom Lokalchauvinismus.

Freitagnacht, ein grinsender Mond. Ganz ab vom Schuss, tranken wir ihnen alles aus der Flasche: die Jeancienne, Damassine und zehn verschiedene Absinth, als eine plötzliche Versammlung, gegen vier oder fünf Uhr früh, die Besucher:innen des Festivals ringsum eine Art Open-Stage sortierte, die aus dem Nichts hergerichtet schien. Es versammelten sich die Leute von da und dort, ein paar Musikertypen aus der Gegend, zum Teil mit Saxophon bewaffnet, dazu harmlose Hippies aus Biel und feministisch geschultes Personal aus der Stadt; alle Übrigen, alle auf, zwischen und neben durchgebogenen Festbänken stehend, herzlich eingeladen sich zu blamieren, wankten sie hin und her wie Weizenhalme. Es lief Musik: eine Karaokeversion
von «Voyage, Voyage» in der Dauerschleife, die erst abbrach, als sich eine als besoffen zu lesende Person das Mikrofon griff, nochmal einzwei vehemente Voyages reingröhlte und mit dem Gesicht voran ins Gras kippte. Nächste Nummer: Eine unter dem Zorrohut, im schwarzem Anzug und mit schwarzen Zöpfen, wie sie das Publikum angefaucht und ein recht langes Baguette-Sandwich aus ihrem Mund hervorgezaubert hat. Oder, nachdem sie verlautet hatte, was sie in der Schule gelernt habe, das tat, nämlich ganz lange und erfolgreich auf den Hinterbeinen eines Monobloc-Gartenstuhls balancieren. Der Applaus war tosend und in den Trubel flogen die Becher hinein, viele Becher, manche halbvoll. Einer der Festbänke brach obendrauf kurz zusammen, Hippies und Bauern purzelten fort, kämpften sich ans Geschehen zurück. Und irgendwann, auch sie wie aus dem Nichts hervorgekommen, diese noch besoffenere Frau gegen vierzig Jahre, als es kurz still war, sie sich räusperte und ins Halbrund raunte: «Ich sags euch ehrlich und ich sags jetzt einfach: Ich stehe auf Männer. Echte Männer. Echte mècs. So!» – und aus der Ecke der Feminist:innen kamen die Becher geflogen wie automatisch und die Buh-Rufe, dass sie schrie, die sie das Geständnis über ihre heteronormative Lust abgelegt hatte: «Ihr seid Schweine! Ihr seid nicht meine Freunde!» und die eben noch aufgebrachte Front aus der Stadt zurückrief: «Doch! Wir sind deine Freund:innen!» und kein Krieg ausbrach und sich bald darauf alles verlief, weil sich die Sonne ans Tagwerk machte, waren die Becher alle geflogen, auf die Bühne, von der Bühne, und wer die Richtung der Geschosse identifiziert hatte, ballerte im Sinne der Gerechtigkeit umgekehrt zurück. Wir rannten bald ins Feld hinaus.

Und trugen diesen seltsam kostbaren Moment mit uns mit, ganz erstaunt waren wir: Über die Offenheit, die Kulanz gegen alle Seiten, die nicht nur mit dem Alkohol zu tun haben konnte. Als hätten wir uns an den eigenen Verklärungen besoffen: gegenüber einem Ort und seinen Menschen, ihrer «façon de vivre». Ganz weich geworden, wo wir irgendwo unten im Tal noch Härte hätten zeigen wollen, haben wir den Enzianschnaps geliebt, der überall sonst auf der Welt nur nach Keller stinkt. Aus dem Kontext geworfen, Becher mit einer halbvollen Einsicht, bittersüss: «Offenheit» ist genauso abhängig von Vorurteilen wie Abgrenzung. Im besten Fall ist es die Abgrenzung zu den eigenen Überzeugungen.

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Septemberausgabe des KSB Kulturmagazins.