Spätzli bei Schweizer Heimatsdrang

Hör mir auf mit Rock‘n‘Roll: Sex, Sport und Fressen – das ist das Triptychon des banalen Glücks. Im Turnus widmet sich KSB der scheinbaren Einfachheit des guten Lebens.

Das Restaurant St Moritz im Londoner Soho-Viertel ist von aussen Swiss-Kitsch pur: dunkle Holzfassade, rot-weisse Gardinen. Das einzige Restaurant im ganzen Gastrolondon mit reiner Schweizerkost. Einen Tibits mit veganem Fondue gab es auch mal, wurde aber Gastro-Opfer Coronas. Die kulinarische Tradition meiner Alpha-Alpenpatria vermisse ich eigentlich wenig. Schweizerkost heisst in London hauptsächlich Luxustruffes, versehen mit Goldblatt und weissen Kreuzen. Als schlechter, aber waschechter Schweizer muss ich das Restaurant trotzdem selber probieren.

Als ich eines Mittags auftauche, ist das St Moritz schummrig und komplett leer. Schwarzweissfotos von Bergen und Männerreihen hängen an jeder Wand. Kuhglocken lampen von der Decke. Total authentische Landbeizästhetik. Das Menu ist halb hochgestochene Brasserie, halb tiefergestochene Beiz: Escargot und Entrecote, Fondue Bourguignon sowie Älplermagronen, Schnitzel, Wurst-Käse-Salat. Kneipenhits vorhanden, sogar mit Schweizer Weinkarte (teuer). Die Stadt draussen ist wie vergessen. Ich bestelle ein Glas Chasselas (das billigstmögliche) und die «St Moritz Spätzli». Weil ich Spätzli liebe und hohe Ansprüche habe.

Vor dem Mahl spaziert ein Hetero-Paar in schicken Mammutjacken und mit zwei Kindern herein. Der Besitzer taucht auf, sie kennen sich alle und schwatzen im Dialekt. Die Eltern schwärmen vom Restaurant, 1985 sei es das einzige Lokal mit guter Rösti und gutem Fondue gewesen. Jetzt seien sie aber mit den Buben zurückgezogen, nach Winterthur. Ob er jemals auch zurück in die Schweiz ziehe, fragt die Mutter. Der Besitzer verneint – er betreibe dieses Restaurant in London seit fünfzig Jahren und kenne die Stadt wirklich gut. In der Schweiz habe er keine Leute mehr. Sie scheinen wie ich einen Schweizer Heimatsdrang zu spüren, der nur schwer überwunden werden kann – sodass die Entscheidung, als Schweizer:in nicht zurückzuwollen, weitere Erklärung verlangt. Das selbstverständliche Sehnen nach… was genau? Weiss ich eben auch nicht. Deswegen bin ich hier und nicht in der Schweiz.

Die Spätzli werden mir serviert, die Familie verabschiedet sich. Die Spez-Spätzli werden in dicker Tomatensauce mit Pilzen und verschmolzenem Sbrinz serviert. Es schmeckt nicht schlecht, ist aber ein bisschen fad. Diese leichte Enttäuschung erinnert mich irgendwie auch wieder an die Schweiz. Nach dem Essen stelle ich mich dem Besitzer vor. Er heisst Armin. Ich sage ihm, dass ich wohl wiederkomme, um im Winter sein Fondue auszuprobieren. Mach ich wohl tatsächlich.

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Novemberausgabe des KSB Kulturmagazins.