Seit Tagen lässt der Wind die offengelassenen Fenster in meiner Wohnung zuschlagen. Seit Tagen wehen draussen die Fahnen, Bernerfahnen und Schweizerfahnen in verschiedensten Ausführungen. Sie flattern im Wind, Markierungen irgendeiner absurden Form von Identität, Nationalstolz an die Sandsteinfassaden gepisst, das ist unser Land, unser Bern und so soll es riechen: Nach säuerlicher Pisse auf sich zersetzendem Sandstein. Dein Lokalpatriotismus ist der kleine Bruder des Nationalsozialismus. Und während sie flattern, die Fahnen im Wind und sich in den Schaufenstern spiegeln, gehen die Leute in den Lauben immer noch viel zu langsam und eigentlich würde ich schneller gehen, aber ständig bleiben sie stehen und so zwingt mich die Berner Trägheit und die Enge der Lauben zum Schlendern.
Ich schlendere also gezwungenermassen die Spittelgass hoch und bleibe selbst stehen, vor dem Globus. Dort wird im Schaufenster das kulinarische Erbe Italiens verkauft, weil «Die ehrliche Küche Italiens begeistert uns.» Das Versprechen eines mediterranen Sommers. Weiter oben noch mehr Sommer, noch mehr Versprechen: «Deine Sehnsucht ist die Ferne» erklärt mir das Loeb-Schaufenster und will mir damit Bademode im ersten und dritten OG verkaufen. Letzte Woche war in diesem Schaufenster noch Frühling: «Der Frühling ist da und steht bei Loeb ganz im Zeichen von Marrakesh. (…) Ein buntes Potpourri von marokkanischen Design- und Trendprodukten wird präsentiert und direkt vor Ort gefertigt – auf der Verkaufsfläche und in der Schaufensterbox. Spüren und riechen Sie in dieser Zeit förmlich die boomende Trendmetropole Nordafrikas mitten im traditionsreichen Warenhaus.» Die Ferne direkt in die Spittelgass verfrachtet und ins Schaufenster gestellt. Die marokkanische Tradition als Trend verkauft und das Loeb-Marketingkonzept als Tradition.
Es ist diese eine vermeintliche Inklusion, die geheuchelte Versöhnlichkeit des Kapitalismus: Alle gehören dazu, wenn sich etwas verkaufen lässt. Das mediterrane Italien lässt sich gut verkaufen, weil es gut riecht, nach frischer Meerluft und Pizza zum Beispiel. Und Gelati. Alle mögen Gelati. Marokko macht zwar ein bisschen Angst, riecht aber auch gut, ein bisschen herber vielleicht als Italien, ein bisschen rauer, aber diese Farben! Das Ocker der Wüste und diese schönen Stoffe, die Ornamente und die Wüste durch die man gerne wandern würde wie Coelhos Alchemist oder diese Typen mit den seltsamen weissen Gewändern und Turbanen und Kamele und Haschisch rauchen den ganzen Tag kann man dort auch, ach Marokko! Also rein ins Flugzeug nach Nordafrika, im Koffer das Loeb-Bikini aus dem 3. OG, All-Inclusive und irgendwo im Ferien-Resort zwei Wochen am Strand chillen, hin und vielleicht mal diese Typen mit den seltsamen Kleidern und Turbanen und Kamele anschauen und Haschisch rauchen, weil es ist ja Marokko, ein paar Stoffe kaufen und Schmuck auf den Märkten, die ja so authentisch sind, lautes Feilschen in fremden Sprachen und diese seltsamen Kleider und die Farben und es riecht so ganz anders als in der Spittelgasse.
«Deine Sehnsucht ist die Ferne.» Verkauf mir diese Ferne im Loeb-Schaufenster, verkauf sie mir in Form eines schlechtsitzenden Bikinis, während dessen Kauf sämtliche eigentlich längst abgeschüttelte pubertären Körperkomplexe über mich hereinbrechen, schwitzend und zitternd in der Umkleidekabine. Verkauf mir die Ferne in Form irgendwelcher Inneneinrichtungsgegenstände, die kein Mensch je braucht, verkauf mir dieses glänzende Marokkanische Tee-Set. Verkauf mir den Billigflug, das All-Inclusive-Resort oder den authentischen Roadtrip mit Locals. Verkauf mir die Illusion, dass sich kulturelle Tradition konsumieren liesse, ohne sie zu zerstören. Dass sich überhaupt irgendetwas konsumieren liesse, ohne es zu zerstören.
Und ich, was mache ich gegen den Weltschmerz angesichts des kolonialisierenden Fernwehs? Ich tanz mir die Wiedersprüche dieser globalisierten Welt und der Kosmopolitismus simulierenden Spittelgasse mit den wehenden Fahnen weg. Ich tanz mir die Diskurse weg, vor zwei Wochen am Alors-Festival zum Beispiel: Weltmusik, elektronische und traditionelle. Manchmal gelingt die Versöhnung mit den Widersprüchen. Weil es ist ja ein minimal kommerzieller Rahmen, der die Begegnung auf Augenhöhe zulässt. Weil dort Inklusion statt Aneignung im Schaufenster passiert, Appreciation statt Appropriation. Und sowieso schafft die Kunst Räume für Austausch und Reflexion. Bis das Unbehagen sich wieder ausbreitet, wenn man bemerkt, dass die einzigen People of Color im Raum die Musiker auf der Bühne sind und die Männer mit den Taschenlampen, die ihre Existenz mit dem Einsammeln leerer Pfandflaschen sichern. Beide weitgereist, die einen freiwillig, die anderen unfreiwillig.
Vielleicht findet sich die Beruhigung der postkolonialen inneren und äusseren Konflikte dann doch noch in der Spittelgass. In der Heiliggeistkirche verspricht «Africa is not a country» einen Raum zu schaffen für «ein Bild eines vielfältigen Kontinents – jenseits der eindimensionalen Wahrnehmung, die in der Öffentlichkeit dominiert.» Ich hatte keine Zeit um reinzugehen, wegen des Schlenderns in den Lauben zwischen Globus und Loeb und ich musste auf den Zug, Richtung Osten, wo alles noch etwas einfacher ist und weniger kosmopolitisch. Wo Kids auf Marx und Koks von der Revolution träumen und für die Klimademo Bananen als Zwischenverpflegung kaufen.
Die Heiliggeistkirche zeigt noch bis am 25. Mai zeitgenössische Fotografinnen und Fotografen aus verschiedenen Ländern des afrikanischen Kontinents. Marrakesh im Loeb-Schaufenster ist vorbei, das Alors-Festival auch und im Globus kann man wohl auf ewig authentische Produkte der ehrlichen italienischen Küche kaufen. Und der Sommer kommt sowieso.