Spriessen und Sterben gleichzeitig

Und schon steigt man wieder in diesen Zug. Hat Kopfhörer dabei, die grossen unverwüstlichen. Und man stolpert ein bisschen durch das sumpfige Land, sieht Sachen, hört Stimmen, manche vertraut, manche vertraut – aber woher?

«Zum Beispiel ein Spaziergang im Düdingermoos», heisst es im Reiseprospekt. Es soll öfter vorgekommen sein in den letzten Tagen: dass sich auf den Matten und Schleichwegen um das weitherum bekannte Bad Bonn kulturhegemoniale Hipster verlaufen, die vernetzten Verletzten, Minimalistinnen und Microdoser mit Northface-Taschen, Südpol-Siebdrucken und tätowierten Freunden in der Ostkurve machen Stories im Torfgebiet – die verdammten Protestanten. Es würde nicht verwundern, wenn die Einheimischen sich gegen den verdächtigen Zulauf wehrten mit vergifteten Halloumistücken im Gebüsch. Und warum hören die den Wald vor lauten Kopfhörern nicht?

Es ist Audiowalk. Das heisst Hören und Gehen gleichzeitig. Es macht Freude. Die Idee stammt von Remo Helfenstein und Patrick Müller und eben diesem unwahrscheinlichen Pub am Ufer des Stausees. Sie geht so:

Ein Audiowalk über das Reden und das Verstehen, die Musik und das Alleinsein, über menschliche Limitationen und die Sensation des Tief-Berührt-Seins. Müller und Helfenstein haben Menschen in ihrem Umfeld gebeten, Lieder auszuwählen und sie zu singen, darüber zu sprechen und ihnen die Aufnahmen als Sprachnachricht zu schicken.

«Quando sei solo ci sono milioni con te» heisst das Stück von dreissig Minuten. Wenn du alleine bist, sind Millionen mit dir. Das stimmt: Gerade erst ins Wäldlein gebogen, begegnet einem schon die erste lustige Wandergruppe. Das Düdingermoos ist auch ein Mekka für Ornithologen und Botanikerinnen im geimpften Ruhestand, an dem man sich mit einem Überholmanöver vorbeischieben muss. Von Torfmoosen hat man, botanisch selber eher jungfräulich, schon gelesen: «Sie spriessen und sterben gleichzeitig.» Nichts weniger wird hier verhandelt.

Im Kopf drin Stimmen, die singen und reden und verstehen. Erzählen von einer zu früh gestorbenen Frau und einem vierjährigen Mädchen. Besingen die Liebe und das Verlassenwerden, vom Daraufscheissen, dass man verlassen wurde, dass man sich nur etwas vorspielt, wenn man nur gut spielt. Türkische Gesänge, vom Kassettengerät verwirbelt, französische Wahrheiten über die grossen und die kleinen Fische, Einsamkeit auf Italienisch und Gruppenpsychologie im Senslerdialekt. Vom freiheitlichen Potential der Peinlichkeit und von der Schönheit als einzige Möglichkeit, der ganzen Scheisse etwas entgegenzuhalten. Am Moosrand erscheint die Autobahn 12. Schenker, Fiege, Planzer, Dachser, Ziegler – bringen Zeug von A nach B. Man ist verliebt in die bösen Geräusche der Lastwagen und in den Müll, der zwischen Naturschutzgebiet und grauem Band hinter den Drahtzäunen verfault.

Man läuft zurück. Die Herren Wandervögel besteigen den Aussichtsturm unter Aufsicht der Damen, die Hündeler packen die Scheisse ihrer Vierbeiner ein und die Spaziergängerinnen erzählen sich, wie es ist im Heimbüro. Für einen kurzen Moment ist man bei ihnen. Für einen kurzen Moment möchte man die Skiterasse im Berner Oberland nicht in die Luft sprengen. Die Fantasie von durch die Bergluft fliegenden Skihelmen, Skihelmen mit Köpfen, Glühweintassen und Kinderskiern blendet süsslich aus und Verständnis stellt sich ein.

Auf dem Weg zum Bahnhof geht man in die Kirche. Eine Kerze anzünden oder ein paar Bilder runterreissen, es will beides nicht: Das Interieur ist karg und wo das Feuer war, steht jetzt Desinfektionsmittel. Auf dem Weg zum Bahnhof holt man sich eine Glacé beim Italiener, «quando sei solo ci sono milioni con te», sagt der Glacémann und streckt mir fröhlich eine Pistacheflöte hin.

Die Tonspur zum Spazieren ist noch bis zum 26. März abrufbar und funktioniert überall, wo das Internet hinreicht. Mit Beiträgen von u.a. Evelinn Trouble, Phil Hayes, Rea Dubach, Thom Luz, Anna Frey, Franziska Stäubli und Duex Fontana vom Bad Bonn. Der empfiehlt übrigens nachdrücklich, die Wanderung im Freiburgerland durchzuführen. «Quando sei solo ci sono milioni con te» ist eine Koproduktion von B-Sides, Südpol und Bad Bonn.