Zu Beginn war die Seuche stochastisch. Ein sozialer Zufallsgenerator, ein Memento Mori für alle und jeden. Arm und reich, jung und alt, Osten und Westen. Dann schälten sich Muster heraus. Und mit ihnen kamen die Schuldzuschreibungen. Meine Eltern erzählten im April von Begegnungen mit Joggern, die sie irgendwo am Waldrand frech anschnauzten, doch gefälligst zuhause zu bleiben. Da waren wir aber noch damit beschäftigt, den Ball bzw. die Kurve flach zu halten.
Inzwischen gilt Spitalhygiene, überall. Wenn wir könnten, würden wir gleich die ganze Welt pasteurisieren. Obwohl wir es eigentlich besser wissen müssten. Dieses Virus wird unter uns bleiben, wir werden es immer und immer wieder zurückdrängen und es wird Gelegenheiten finden, sich wieder auszubreiten. Ein Spiel des Zufalls, weiterhin. Menschen treffen sich, ausser wir sorgen für norditalienische Lockdown-Verhältnisse. Das Virus freut sich. Zu früh: Wir bremsen die weitere Ausbreitung. So würde es wohl gehen, Schuldige bräuchten keine ausgemacht zu werden. Alles in allem wäre die Lage unter Kontrolle, punktuelle Ausbrüche hin oder her. Aber es scheint fast, als wären da zwei Erreger gleichzeitig im Umlauf. Ein viraler und ein moralischer. Das Ganze folgt der guten alten Strafe-Gottes-Logik: Wenn eine Plage in die Welt kommt, dann passiert das nicht umsonst. Oder auch: Wo eine Seuche ist, ist die Moral nicht fern. Und damit das Denunziantentum.
Man denkt natürlich ans Mittelalter, an die Pest und die vielfältigen Versuche, das böse Schicksal ein wenig fassbarer zu machen. Wen trifft es, weshalb? Dass ein Krankheitserreger keine Ahnung von moralischen Werturteilen, dafür aber umso mehr Expertise in Übertragungswegen hat, merkten wir erst später. Wobei: Das Muster ist geblieben. Man merkt es jetzt. Und man merkte es noch viel heftiger bei der letzten Krankheit, die uns nicht nur epidemiologisch, sondern auch sozial-kulturell traf: Haben wir es je geschafft, AIDS nicht mehr als «Schwulenseuche» zu sehen? Beziehungsweise als Risiko, das bewusst eingeht, wer eine hemmungslose – und insofern zu verurteilende – Sexualität auslebt? Bei Geschlechtskrankheiten lag dieses Muster immer nahe, dieses «hat man halt davon» hinter vorgehaltener Hand. Doch bei einem ordinären Schnupfenvirus, dem jede Gelegenheit recht ist, sich über die Luft zu verbreiten, sei es im öffentlichen Verkehr, im Supermarkt, am Arbeitsplatz, auf einer Beerdigung? Da ging das moralische Zeigefingern lange ins Leere.
Bis die Clubs wieder aufgingen. Gegen alle epidemiologische Vernunft! Man weiss ja wie das da zu und her geht. Wie Unverantwortlichkeit und Exzess einhergehen. Endlich hatte man die Schuldigen gefunden, endlich war man beim Sinnstiften nicht mehr dem Zufall ausgeliefert – den lieben sowieso nur Mathematikerinnen und Teilchenphysiker. Apropos Zufall: Dass der Zeigefinger exakt aus spiessbürgerlicher Richtung fuchtelt – geschenkt. Andere zeigen auf grosse Fleischfabriken. Oder auf Flüchtlinge. Auch so eine Moral der Geschicht.
Gehen Sie JETZT nach Hause.
Stellen Sie sich in eine Ecke und wiederholen Sie leise für sich: Keine Ausschweifungen mehr. Keine Ausschweifungen mehr. Keine Ausschweifungen mehr.
(Und wenn Sie damit fertig sind: hören Sie Susan Sontag zu)